Ann Xiaoyan Shi erinnert sich gut an den Tag im März vor dreieinhalb Jahren. Ihr Mann Jin Yao war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit als IT-Manager. Die letzten paar Hundert Meter von der Bahnstation fuhr er jeweils mit seinem Trottinett. Doch an diesem Tag kam er nicht zuhause an. Der heute 55-Jährige hatte einen schweren Unfall und erlitt daraufhin eine schwere Hirnblutung. Einen Monat war er im Unispital Zürich, zwei Wochen davon lag er im Koma. «Wir wussten nicht, ob er überleben würde, und falls ja, wie es ihm gehen wird», erzählt Ann Xiaoyan Shi. Sie ist und war seit dem Unfall die wichtigste Person für Jin Yao. «Wenn meine Frau bei mir ist, dann geht es mir besser, dann fühle ich mich sicherer», sagt Jin Yao, der durch den Unfall nicht mehr in seinem früheren Job als IT-Manager arbeiten kann.
Unterstützung von FRAGILE Suisse
Nach dem Spitalaufenthalt folgte eine mehr als einjährige Reha-Phase in Bellikon, danach war er ein Jahr und zwei Monate im Haus Selun, ein Kompetenzzentrum für Menschen mit Hirnverletzung. Dort konnte er neue Perspektiven aufbauen und neue Lebensformen finden, sofern das mit seinen Folgen der Hirnverletzung möglich war. Jin Yao ist halbseitig gelähmt. Am Stock kann er gut ein paar Schritte gehen, seinen linken Arm kann er nicht mehr brauchen. Aber er trainiert ihn fleissig in der Therapie.
Während der Reha-Phase besuchte Ann Xiaoyan Shi ihren Mann jeden Tag. «Hätte ich ihn alleine gelassen, hätte ich mich schuldig gefühlt», sagt sie. Heute weiss sie, dass es sehr wichtig ist, auch als Angehörige Zeit für sich zu haben, um neue Kraft und Energie zu tanken. Eine grosse Stütze und Hilfe waren und sind ihr auch immer noch ihre drei mittlerweile erwachsenen Kinder. Weitere Unterstützung bekommen die beiden von FRAGILE Suisse. Sylvianne Imhof Zanaty kümmert sich seit einem guten Jahr als Wohnbegleiterin um die Familie, die seit 20 Jahren in der Schweiz lebt. Vor allem bei administrativen Arbeiten wie dem Organisieren von Terminen ist sie ihnen behilflich. «Diese Hilfe schätzen wir sehr, Sylvianne Imhof Zanaty entlastet mich», so Ann Xiaoyan Shi. Sie arbeitet noch 25 Prozent als Chinesischlehrerin, kümmert sich um den Haushalt, die drei Kinder, die alle noch zuhause leben, und eben um ihren Mann.
Glaube als Kraftquelle
Nicht immer kann Ann Xiaoyan Shi die Emotionen ihres Mannes verstehen und deuten. Das macht es manchmal schwierig für sie. Auch eine Herausforderung ist seine Ungeduld. «Vor dem Unfall war er der geduldigste Mensch, heute ist er sehr ungeduldig.» Wenn er etwas wolle, dann müsse es sofort sein. Er sieht das allerdings ganz anders. In seinen Augen ist er nicht ungeduldig, was er auch sogleich im Gespräch ziemlich deutlich klarstellt. Auch werde er öfters wütend, wenn es nicht so gehe, wie er es möchte, erzählt seine Frau weiter. Auch hier hat Jin Yao eine andere Ansicht. «Wenn ich mich ärgere, habe ich einen Grund, wenn meine Frau sich aufregt, hat sie keinen», sagt er und lacht schelmisch.
Die beiden reden viel miteinander und trotz der schwierigen Situation haben sie ihren Humor nicht verloren. Auch ihr christlicher Glaube gibt ihnen viel Mut und Kraft. Ann Xiaoyan Shi ist überzeugt, dass sie es ohne ihren Glauben nicht geschafft hätte. So schwer es manchmal auch ist, so sieht die dreifache Mutter trotzdem noch das Positive: «Heute verbringen wir viel mehr Zeit miteinander.» Vor dem Unfall war Jin Yao stark in seinen Job eingebunden. «Die Situation und das Leben nach dem Unfall haben mich stärker gemacht», schliesst Ann Xiaoyan Shi.
Text: Carole Bolliger