Sind jüngere Menschen besser vor Hirnverletzungen geschützt als ältere?
Man sollte sich bewusst sein, dass jede:r, egal welchen Alters, von einer Hirnverletzung getroffen werden kann. Während Schlaganfälle häufiger ältere Personen betreffen – verursacht durch altersbedingte Gefässveränderungen oder Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern) – kommen autoimmun-entzündliche Erkrankungen, wie die Multiple Sklerose, eher bei jüngeren Menschen vor. Erreger-assoziierte Hirnentzündungen können in jedem Alter auftreten, wie die FSME, eine durch Zecken übertragene Erkrankung. Da ältere Personen im Vergleich zu jüngeren ein eher schwächeres Immunsystem haben, kann es bei infektiösen Erkrankungen des Gehirns zu einem schwereren Verlauf kommen. Bei den traumatischen Hirnverletzungen sind Stürze bei älteren Personen eine häufige Ursache und bei Jüngeren sind es eher Sport-/Freizeit- und Verkehrsunfälle.
Wie können sich Hirnverletzungen auf das Leben junger Menschen in Bezug auf ihre Bildung, soziale Kontakte und berufliche Perspektiven auswirken?
Sehr unterschiedlich, das hängt sehr davon ab, wie schwer die kognitive, psychische und körperliche Behinderung ist. Die erhöhte Erschöpfbarkeit (Fatigue) ist ein häufiges Symptom. Was früher Freude gemacht hat, wird plötzlich zur Last, z. B. Treffen mit Freunden, Teilnahme an Familienfeiern etc. Hinzu kommt, dass viele Patient:innen eine erhöhte Reizempfindlichkeit, z. B. auf Lärm, beklagen, so dass Konzert- oder Restaurantbesuche eher als Anstrengung, denn als Genuss empfunden werden. Schwankungen der Belastbarkeit führen oft dazu, dass Verabredungen kurzfristig abgesagt werden müssen, was sich wiederum negativ auf den Bereich soziale Kontakte auswirken kann.
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen erschweren das Zuhören bei einem Gespräch oder die Wiedergabe des Gesprächsinhaltes. All das kann dazu führen, dass sich manche Freundschaften und Bekanntschaften auflösen, dass Patient:innen vereinsamen und es zu einer Negativspirale mit zunehmendem sozialem Rückzug kommt.
Beim Thema Bildung und Beruf sind ebenfalls Hürden zu nehmen. Zwar versuchen die Sozialversicherungen ihr Bestes zum Gelingen der beruflichen Wiedereingliederung – auch mit Unterstützungsangeboten für den Arbeitgeber – dennoch bleibt es eine Herausforderung. Besonders schwierig wird es oft dann, wenn eine Rückkehr an den bisherigen Arbeitsplatz nicht möglich ist und eine neue Arbeitsstelle gesucht werden muss. Dies erfordert von allen Beteiligten ein hohes Mass an Flexibilität und Offenheit. Der heutige Konkurrenz-/Leistungs- und Effizienzdruck belastet Arbeitgeber wie Arbeitnehmer gleichermassen und kann dazu führen, dass Arbeitgeber trotz Unterstützungsangebote der Sozialversicherungen sich eher gegen die Anstellung einer hirnverletzten Person entscheiden. Im Hinblick auf berufliche Perspektiven/Karrieremöglichkeiten haben Menschen mit Hirnverletzung im realen Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsnachteil. Hier sehe ich noch Verbesserungsmöglichkeiten im Bereich der beruflichen Reintegration.
Welche psychologischen Auswirkungen hat eine Hirnverletzung besonders auf junge Menschen?
Egal, ob jung oder alt, psychische Erkrankungen kommen bei Hirnverletzungen häufig vor. Die Depression kann eine organische Komponente aufweisen. Es kann zu einer organisch bedingten Affektlabilität mit plötzlichem Lachen oder Weinen kommen - manchmal für Aussenstehende ohne ersichtlichen Grund. Depressionen können auch reaktiv auftreten, denn es ist nicht leicht, mit den Symptomen einer Hirnverletzung und den veränderten Lebensumständen zurechtzukommen.
Gerade, wenn es verletzungsbedingt zu einer Verhaltensstörung oder Wesensänderung kommt, stellt dies für Betroffene, Familie und Freunde eine grosse Herausforderung dar.
Wie unterstützt FRAGILE Suisse junge Betroffene bei der beruflichen Wiedereingliederung?
Es gibt Beratungsangebote und eine Helpline. Fachpersonen aus dem Sozial- und Gesundheitswesen kümmern sich um die Anliegen Betroffener, beantworten Fragen oder vermitteln an eine Fachstelle weiter. FRAGILE Suisse arbeitet mit Angehörigen und dem nahen Umfeld, mit Rehakliniken, der Spitex und anderen Fachstellen zusammen, um eine bestmögliche Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten. Mit dem Angebot LOTSE werden Menschen mit Hirnverletzung und ihre Angehörigen mit Hilfe von Sozialberatung beim Übergang von der stationären Behandlungsphase in die Nachsorge unterstützt und gemäss individuellem Bedarf in ihren veränderten Lebensumständen langfristig begleitet. LOTSE unterstützt eine nachhaltige individuelle berufliche und soziale Wiedereingliederung der Betroffenen. Betroffene werden befähigt, für sich neue Kompetenzen zu entwickeln, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Persönlich: Sie sind Fachärztin für Neurologie und seit letztem Jahr Vorstandsmitglied bei FRAGILE Suisse. Was motiviert Sie, sich für FS zu engagieren?
Als Neurologin und im Bereich Versicherungsmedizin tätige Ärztin möchte ich gerne für die medizinischen und versicherungsmedizinischen Herausforderungen einer Hirnverletzung sensibilisieren. Ich wünsche mir, als Vorstandsmitglied einen Beitrag zur Verbesserung der Betreuung von Menschen mit Hirnverletzung leisten zu können. Das interprofessionelle Arbeiten im Vorstand ist nicht nur eine Bereicherung, sondern auch nötig, um die Zielsetzungen von FRAGILE bestmöglich auf die Bedürfnisse der Betroffenen abzustimmen.
Abschliessend, was sind Ihre Hoffnungen für die nächste Generation junger Betroffener und die Veränderungen, die Sie sich für sie wünschen?
Ich wünsche mir mehr gesellschaftliche und politische Bestrebungen im Hinblick auf die beruflichen Perspektiven junger Betroffener. Eine Hirnverletzung zu haben, bedeutet nicht zwangsläufig, nicht mehr arbeiten zu können. Es braucht vielleicht bestimmte Anpassungen am Arbeitsplatz, aber vor allem braucht es eine realistische Chance und mehr Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt für Menschen mit Hirnverletzung.
Stimmt es, dass ältere Personen häufiger von Hirnverletzungen betroffen sind?
Wenn man unter dem Begriff Hirnverletzung allgemein eine strukturelle Schädigung des Gehirns versteht, dann beinhaltet der Begriff sowohl traumatische Hirnverletzungen als auch Schädigungen des Gehirns infolge einer Hirnblutung, einer Durchblutungsstörung, einer Entzündung oder auch infolge neoplastischer Prozesse, wie z. B. eine Tumorerkrankung. U.a. Aufgrund der Vielzahl an möglichen Ursachen kann man nicht pauschal sagen, ob generell Hirnverletzungen eher bei älteren oder eher bei jüngeren Menschen auftreten, es kommt auf die jeweilige Ursache an.
Wie unterscheiden sich die Herausforderungen junger Menschen mit Hirnverletzungen von denen älterer Betroffener?
Junge Menschen stehen oft mitten im Berufsleben oder sind gerade dabei, eine Familie zu gründen und dann passiert es. Eine besondere Herausforderung ist die berufliche Reintegration. Dabei erschweren gerade die unsichtbaren Symptome einer Hirnverletzung den Wiedereinstieg. Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Müdigkeit, erhöhte Reizbarkeit, Dünnhäutigkeit bis hin zu einer Wesensänderung sind Symptome, die durch eine Hirnverletzung verursacht werden können. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft stellen diese Symptome eine besondere Herausforderung dar, nicht nur für Patient:innen und Angehörige, sondern auch für Arbeitgeber.
Auch ältere Menschen leiden unter ähnlichen Symptomen, auch wenn sie möglicherweise nicht mehr im Berufsleben stehen. Hier können sich z. B. Konzentrations-/Gedächtnisstörungen bei alltäglichen Verrichtungen, wie beim Einkaufen, zeigen, aber auch zu einer erhöhten Sturzgefahr führen. Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit können dazu führen, dass nicht so genau auf den Boden geschaut wird oder dass Betroffene schneller abgelenkt werden, und schon kommt es zum Sturz. Auch bleibende Halbseitenlähmungen oder andere Beeinträchtigungen der Motorik, Koordination und Sprache können das Leben der Betroffenen einschränken.
Welchen Einfluss kann eine Hirnverletzung auf die finanzielle Situation der Betroffenen haben und welchen Risiken sind vor allem junge Personen ausgesetzt?
Die Sozialversicherungen ersetzen den Lohnausfall nicht im Verhältnis 1:1. Die IV-Rente ist als Existenzsicherung gedacht, es muss also mit Abstrichen gerechnet werden. Ausserdem hängt die Höhe der Rente vom errechneten IV-Grad ab. Wenn jemand aufgrund einer Krankheit eine Hirnverletzung erleidet, dann ist primär die Krankentaggeldversicherung und danach die IV zuständig. Die Pensionskassen, sofern man eine hat, schliessen sich oft dem IV-Entscheid an und haben zum Ziel, den Lebensstandard zu sichern.
Wenn jemand aufgrund eines Unfalls eine Hirnverletzung erleidet, dann kommt zunächst das Unfalltaggeld zum Tragen, dann wird im Verlauf die Höhe der Unfallrente festgelegt. In der Regel erfolgt noch der Einbezug der IV.
Die Taggeldversicherungen decken einen Lohnersatz zwischen 80-100% ab. Das hängt davon ab, welche Vertragsbedingungen der Arbeitgeber mit der Taggeldversicherung bei Vertragsabschluss festgelegt hat. Das Krankentaggeld läuft nach ca. 2 Jahren aus, beim Unfalltaggeld können die Zahlungen länger laufen.
Wenn z. B. bei einer Krankheit, die zu einer Hirnverletzung geführt hat, die IV-Anmeldung zu spät erfolgt, dann kann es passieren, dass das Krankentaggeld ausgelaufen ist, aber noch keine IV-Rente gesprochen wurde. Oft ist hier eine frühzeitige Beratung hilfreich, z.B. betriebsinterne Sozialberatungen, Angebote der Rehakliniken oder bestimmter Organisationen, wie z. B. FRAGILE Suisse.
Welche Rolle spielen soziale Medien und digitale Technologien in der Unterstützung junger Menschen mit Hirnverletzungen?
Digitale Technologien können im Alltag hilfreich sein. Das fängt schon beim Handy an. Betroffene mit Gedächtnisstörungen können z. B. Termine digital eintragen und werden dann automatisch erinnert. Für Menschen mit einer Sprach- oder Sprechstörung gibt es verschiedene elektronische Hilfsmittel zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit. Ein neuropsychologisches Training zur Verbesserung kognitiver Funktionen kann ebenfalls unterstützend eingesetzt werden.
Über soziale Medien besteht die Möglichkeit, mit anderen Betroffenen in Kontakt zu kommen und sich auszutauschen.
Wie können Familien und Freunde junge Betroffene am besten unterstützen?
Inklusion ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen. Der Mensch braucht eine soziale Gruppe, zu der er sich zugehörig fühlen kann und wo er sich wertgeschätzt fühlt. Es hilft, wenn junge Betroffene spüren, dass sie trotz Hirnverletzung noch dazugehören, auch wenn manches vielleicht ein bisschen anders ist als vorher.
Es braucht Verständnis für die Einschränkungen, sowohl für allfällige körperliche Probleme als auch für die kognitiven und psychischen Probleme. Betroffene wollen ernstgenommen und verstanden werden. Gerade bei den unsichtbaren Folgen wie Müdigkeit und Erschöpfung braucht es Verständnis dafür, dass die Symptome von der Hirnverletzung kommen und nicht von einer fehlenden Motivation oder Interessenlosigkeit des Betroffenen herrühren. Manchmal ist es hilfreich, wenn sich Angehörige und Freunde (das Einverständnis der Betroffenen vorausgesetzt) von einem Arzt, von Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen oder einer Organisation wie FRAGILE beraten lassen, um besser verstehen zu können, was eine Hirnverletzung bedeuten kann.
Was können wir als Gesellschaft tun, um das Thema «Hirnverletzungen» stärker in den Fokus zu rücken und die Bedürfnisse der Betroffenen mehr zu berücksichtigen?
Es ist wichtig, über das Thema Hirnverletzung zu sprechen und auch darüber, dass es jeden von uns treffen kann. Vorurteile, Missverständnisse und Ängste müssen abgebaut werden, um offen aufeinander zugehen zu können.
Interview: Carole Bolliger