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«Was machen wir mit dem, was noch da ist?»

Yannik Brazzola hat 2004 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und ist trotz der Folgen wieder aufgestanden. Das Vorstandsmitglied von FRAGILE Vaud ist auch Gründerin und Moderatorin von Bibliothé. Heute blickt sie mit Gelassenheit auf ihren Werdegang zurück.

Yannik Brazzola hat 2004 ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und ist trotz der Folgen wieder aufgestanden. Das Vorstandsmitglied von FRAGILE Vaud ist auch Gründerin und Moderatorin…

Bild von Yannik Brazzola

 

Samstag, 3. Januar 2004. Yannik Brazzola ist mit ihrem Mann und Freunden in Saint-Luc im Wallis am Skifahren. Der Schnee ist eisig und alles geht sehr schnell: Sie fährt gegen einen Stein und stürzt. Yannik, die keinen Helm trägt, schlägt mit dem Kopf auf der vereisten Piste auf. «Die Berge drehten sich wie ein Karussell», erinnert sie sich.

Schwierige Momente

Die Folgen des Schädel-Hirn-Traumas (SHT), das Yannik bei diesem Unfall erlitten hat, machen sich rasch bemerkbar. Sie hat mit einer extremen Müdigkeit zu kämpfen und eignet sich eine «Strategie des Lebens in Tranchen» an: ein ständiger Wechsel zwischen Aktivitäten und Pausen. Auch Hyperakusis (erhöhte Geräuschempfindlichkeit) und Hypersensibilität werden zu ihren täglichen Begleitern. Ihr Gehirn funktioniert wie ein Schwamm und nimmt alles auf. Yannik fühlt sich pausenlos von Informationen überflutet, was ihr zu schaffen macht. Dazu kommen Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfweh und andere ständige Schmerzen. Zudem leidet sie an Anosognosie: einer Störung, die sie daran hindert, sich ihres neuen Zustands voll bewusst zu werden.

Sie gibt aber nicht auf und will weiter als Englischlehrerin arbeiten. «Meine Schülerinnen und Schüler lagen mir am Herzen», erklärt sie. Die Folgen der Hirnverletzung und die Schmerzen holen sie aber schliesslich ein und das Verdikt der Ärzteschaft ist klar: Unterrichten geht nicht mehr. «Das war der härteste Moment», sagt sie über diese Zeit, die sie als «Unterleben» bezeichnet. Auch für ihren Mann ist es sehr schwierig. Er ist frustriert, weil er das neue Leben seiner Frau nicht begreifen kann. Ihre Freundinnen und Freunde wenden sich fast alle ab. Die meisten Menschen verstehen ihre neue Realität nicht, da ihre Verletzungen unsichtbar sind. Ständig kommen Bemerkungen wie «Du siehst gut aus, also ist alles in Ordnung» oder «Du musst dich nur anstrengen».

Der Wille, das Leben neu aufzubauen

Drei Jahre später stellen die Ärzte fest, dass Yanniks Trigeminusnerv (ein Hirnnerv, der für motorische und sensible Funktionen zuständig ist) seit ihrem Unfall durch ein Knochenfragment gestört wird. Sie wird operiert und ihr Kopfweh sowie die anderen Schmerzen lassen nach. Die Folgen ihres SHT sind zwar immer noch da, aber Yannik fühlt sich «fast wieder im Leben». Ihre Familie unterstützt sie, wo sie kann. Mittlerweile konnte auch ihr Mann Abstand gewinnen und akzeptieren, was seiner Frau passiert ist. Er steht voll und ganz hinter ihr. Und auch ihre beiden Söhne machen ihr Mut – ebenso wie ihr kleiner, aber treuer Freundeskreis. Yannik, die vor ihrem Unfall sehr aktiv war, will ihr Leben neu aufbauen. Nach und nach erobert sie sich ihre Selbstständigkeit zurück und tut das, was ihr schon immer wichtig war. Sie fängt wieder an zu wandern, zu singen und Klavier zu spielen, immer nach ihrer «Strategie des Lebens in Tranchen». Die Ärzte loben ihre Hartnäckigkeit. Yannik gewinnt eine gewisse Gelassenheit in Bezug auf ihre Situation und macht weiter, Schritt für Schritt. «Heute geniesse ich alles viel mehr», sagt sie mit einem Lächeln. «Es hilft zu sehen, dass Menschen in derselben Welt leben wie ich» Yannik hat zwei Jahre nach ihrem Unfall von FRAGILE Suisse erfahren. Zunächst nahm sie an Aktivitäten und Gesprächsgruppen von FRAGILE Vaud teil. «Mir wurde bewusst, dass es Menschen gibt, die das Gleiche erleben wie ich», sagt sie. Yannik fühlt sich endlich verstanden, aber ihre Hypersensibilität hindert sie vorerst daran, sich mehr zu engagieren. Sie leidet mit den anderen mit und ist dankbar für die Hilfe von FRAGILE Suisse: «Man kann sich nicht vorstellen, in dieser Situation zu sein. Man glaubt, dass alles wieder wie früher sein wird. Es hilft zu sehen, dass Menschen in der gleichen Welt leben wie ich, und jeder versucht, auf seine Weise weiterzumachen.»

Resilienz mit anderen teilen

Yannik wollte sich für FRAGILE Vaud engagieren und überlegte sich, was für sie möglich wäre. Als studierte Literaturwissenschaftlerin und leidenschaftliche Leserin gründete sie den Lese-Workshop Bibliothé, bei dem es darum geht, «Bücher, Tee, Freundschaft, Solidarität und Tipps zur besseren Bewältigung des Alltags miteinander zu teilen». Dieser Workshop stützt sich auf das Konzept der «Resilienz». Zentral ist die Frage: «Was machen wir mit dem, was noch da ist?» Die Bibliothé-Moderatorin FRAGILE Suisse möchte sich darauf konzentrieren, was noch möglich ist: «Wir haben mehr Ressourcen, als wir glauben. Nie die Hoffnung aufgeben! Es ist nicht einfach, aber es gibt ein Leben nach einem Schädel-Hirn-Trauma.» Yannik sieht, dass ihr Workshop gut ankommt. Die Teilnehmenden gehen mit neuer Energie nach Hause und die Beziehungen untereinander werden enger. Sie betont auch die Vorzüge des Lesens: Man kann sich informieren und austauschen, während man gleichzeitig in andere Welten versetzt wird. Bibliothé gibt es nun seit zehn Jahren. Yannik fühlt sich mit diesem Engagement manchmal belastet und hat auch schon übers Aufhören nachgedacht. «Aber es tut so gut», meint sie und betont ihren Willen, dieses Projekt weiterzuverfolgen. «Mach noch zehn Jahre weiter!», sagte ein Teilnehmer einmal zu ihr. Und wenn man Yanniks Empathie und ihren Mut bedenkt, dann wird sie zweifellos ihr Möglichstes geben.

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