Es ist ein Segen und ein Fluch.
Von aussen sieht niemand, dass meine Kommandozentrale nicht den üblichen Standards entspricht. Das wäre nur sichtbar, wenn ich meine Schädeldecke hochheben würde; eine Aussicht, die an einen Horrorfilm erinnert.
Es ist ein wahrer Segen, dass mein offenes, mittelschweres Schädelhirntrauma keine sichtbaren Schäden verursacht hat: Mein Körper funktioniert einwandfrei, sei es beim Tanzen, Radfahren oder Staubsaugen – abgesehen davon, dass ich keine schnellen Bewegungen machen darf, weil mein Gleichgewichtszentrum aus der Balance geworfen wurde, gelingt mir das alles ganz «normal».
Der Fluch zeigt sich, wenn mir Aussenstehende mehr zutrauen, als ich bieten kann…
Konzentrationsschwierigkeit, tiefere Leistungsfähigkeit, ein Nervenkostüm dünn wie ein Spinnennetz; das sind nur ein paar der sogenannten unsichtbaren Behinderungen, die oft eine Herausforderung darstellen: Wie gehe ich am besten damit um, wie erkläre ich es meinem Umfeld und sowieso – muss ich das überhaupt…? Falls ich nicht vorhabe, auf eine einsame Insel auszuwandern, lautet die Antwort ja. Und am besten geht das mit praktischen Beispielen und Metaphern.
Fangen wir mit dem Sehen an: Abgesehen von einer erhöhten Lichtempfindlichkeit an sich kein Problem, weder im Alltag, noch beim Lesen oder Schreiben. Das, was sich verändert hat, ist die Bearbeitung der Informationen bei Situationen, in denen mehrere Impulse gleichzeitig geschehen. Während früher meine Boten das Gesehene in einem Raumschiff mit Lichtgeschwindigkeit an die Kommandozentrale weiterleiteten, fahren sie heute mit dem Bummelzug. Beispiel Kochsendung: Bis ich die ersten beiden Schritte der Teilnehmenden aufgenommen und verarbeitet habe, sind sie bereits bei Schritt sechs angelangt. Da hilft nur noch zurückspulen und auf Pause drücken, um alles aufzuschreiben. Das alles ist noch ertragbar und nicht wirklich einschneidend.
Komplett anders beim Hören: Da bin ich so hochempfindlich geworden, dass bestimmte Töne mir wortwörtliche Schmerzen verursachen. Die ganz hohen sind am schlimmsten, sie fühlen(!) sich an, als würde man mir mit einer Rasierklinge die Kopfhaut bis auf die Schädeldecke aufschneiden. Oder Presslufthammer. Als würde man mir ganz feine, spitze Nadeln in den Kopf hämmern. Horror. Menschen um mich herum, die gleichzeitig und durcheinanderreden – ich verstehe kein einziges Wort und bin sofort überreizt. Stimmen, die zu leise reden – es macht mich wahnsinnig... Wie eiskalte Nebelschwaden, die von allen Seiten in meinen Kopf eindringen.
Es ist ein Fluch, dass ich im Alltag solchen Situationen praktisch nicht ausweichen kann und ihnen schutzlos ausgeliefert bin.
Es ist ein Segen, dass ich Zuhause die Klänge wählen kann, die meine Seele streicheln und den fleissigen Mitarbeitern in meiner Kommandozentrale ihre ständigen Überstunden lohnenswert erscheinen lassen.
Liebste Hirnzellen, ich verbeuge mich vor euch und bedanke mich aus tiefstem Herzen für euren unglaublichen Einsatz.
Rosella Giacomin