Katrin Rauen, wie wichtig ist die Frühintervention nach einer Hirnverletzung?
Sehr wichtig. Denn das Gehirngewebe ist ähnlich verwundbar wie der Herzmuskel. Durch eine frühzeitige Intervention kann die wichtige Sauerstoff- und Glukoseversorgung für das Gehirn wiederhergestellt werden. Es gilt «Time is brain – Zeit ist Gehirn».
Was kann durch eine frühzeitige Intervention vermieden oder gar verhindert werden?
Wir müssen das Schädel-Hirn-Trauma vom Schlaganfall unterscheiden. Bei einem Schädel-Hirn-Trauma kann das Gehirn durch die mechanische Krafteinwirkung während des Kopfanpralls bei einem Autounfall oder Sturz vielfach geschädigt werden. Der mechanische, primäre Gehirnschaden ist nicht behandelbar. Durch eine schnelle Intervention können aber sekundäre Gehirnschäden durch Gehirnschwellung oder eine Gehirnblutung vermindert oder gar verhindert werden. Bei einem Schlaganfall hingegen kann durch eine schnelle Behandlung das betroffene Gefäss wieder freigelegt werden. Dabei wird der Blutpfropf medikamentös und bei Bedarf durch einen operativen Eingriff aufgelöst. Somit kann eine Schädigung des Gehirns vermindert oder verhindert werden und die Patient:innen haben im besten Fall keine oder kleinere bleibende Schäden. Schlaganfall-Patienten müssen sehr schnell auf die spezielle Stroke-Unit gebracht werden.
Sie leiten eine Studie zu neuropsychiatrischen Langzeitfolgen nach leichter Schädel-Hirnverletzung. Was ist das Ziel dieser Studie?
Das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist die häufigste Ursache für bleibende Behinderungen bei Kindern und jungen Erwachsenen bis zum 45. Lebensjahr. In der Schweiz gehen wir jährlich von hochgerechnet etwa 25 000 Patient:innen mit einem leichten SHT aus. Die Hälfte dieser Patient:innen erholt sich nicht vollständig und mehr als 15% leiden an kognitiven Beeinträchtigungen 12 Monate nach dem leichten SHT, obgleich wir keine objektivierbaren Befunde in der heute verfügbaren Routine-Diagnostik finden. Ziel unserer Studie ist es, klinische, zirkulierende und bildgebende Marker zu entdecken und zu validieren. Dadurch können Risikopatienten für einen ungünstigen Langzeitverlauf frühzeitig identifiziert werden. Ebenso können wir den Zusammenhang zwischen chronischer Neuroinflammation (Entzündung von Nervengewebe) und posttraumatischer Neurodegeneration (Verlust von Nervenzelle) entschlüsseln.
Was sollen die Studienergebnisse zeigen?
Die Studienergebnisse werden einen neuen diagnostischen Algorithmus ermöglichen, der die multidisziplinären Teams bei der Früherkennung von Risikopatienten unterstützt und durch eine neuropsychiatrische Behandlung das Langzeitergebnis nach leichtem SHT verbessert. Somit können neue Therapien entwickelt werden, um unseren Patient:innen zu helfen, ins Arbeitsleben zurückzufinden.
Schädel-Hirn-Traumata werden in drei Stufen «leicht», «mittelschwer» und «schwer» eingestuft. Wie findet eine solche Einschätzung statt und was zeichnet ein leichtes SHT aus?
Um den Schweregrad eines Schädel-Hirn-Traumas einzuschätzen, verwenden Ärzt:innen die sogenannte Glasgow-Coma-Skala (GSC). Dabei werden Punkte für folgende Kriterien vergeben:
- Öffnen der Augen: Werden die Augen spontan, erst auf Ansprache, auf einen Schmerzreiz oder gar nicht geöffnet (z.B. bei Bewusstlosigkeit)?
- Körpermotorik: Bewegt sich der Betroffene auf Aufforderung oder ist die Bewegungsfähigkeit krankhaft eingeschränkt?
- Verbales Reaktionsvermögen: Wirkt die betreffende Person nach dem Unfall orientiert und beantwortet Fragen sinnvoll?
Je besser und spontaner der Betroffene, bezogen auf das jeweilige Kriterium, reagiert, desto höher ist die vergebene Punktzahl und liegt zwischen einem minimalen GCS von 3 bis maximal 15. Umgekehrt bedeutet dies, je geringer die Punktzahl, desto schwerwiegender und lebensbedrohlicher ist die Verletzung.
Ein leichtes SHT (Grad 1) zeichnet sich dadurch aus, dass es zu keiner oder nur zu einer kurzen Bewusstlosigkeit von maximal 15 Minuten kommt. Auch eine allfällige Erinnerungslücke darf nicht länger als 24 Stunden betragen. Die Befunderhebung mit der GSC nach 30 Minuten muss 13-15 Punkte betragen.
Können Sie einen persönlichen Tipp für Betroffene geben, wie man nach einer Hirnverletzung eine möglichst «gute Lebensqualität» erreichen kann?
Lassen Sie uns zuerst schauen, was eine gute Lebensqualität ist. Nach Definition der WHO ist sie von inneren und äusseren Faktoren abhängig. Ich empfehle fünf Bereiche anzusehen: Beruf, Familie, Partnerschaft, Sozialleben und eigene Interessen. Diese Bereiche sollte jeder möglichst balanciert leben. Je nach neuropsychiatrischen Folgen kann dies nach einer Hirnverletzung schwer sein und oft im Zeitverlauf wieder gelingen. Zwei Drittel der SHT-Patienten erreichen nach einem bis zehn Jahren nach der Hirnverletzung wieder eine gute Lebensqualität. Diese eigenen Studienergebnisse beziehen sich auf Patient:innen, die sehr schwer verletzt und pflegebedürftig waren und eine Neurorehabilitation gebraucht haben. Das ist also eine sehr gute Nachricht. Andererseits dürfen wir das eine Drittel der Betroffenen nicht vergessen, welches es nicht schafft, eine gute Lebensqualität zu erreichen. Diese Personen brauchen eine individuelle neuropsychiatrische Diagnostik, um individuelle Therapiemöglichkeiten zu finden.
Welche Rolle spielt eine Organisation wie FRAGILE Suisse, gerade bei Patienten, die Schwierigkeiten haben, zurück in eine gute Lebensqualität zu finden?
FRAGILE Suisse ist eine wichtige Organisation, nicht nur für Betroffene und Angehörige, sondern auch für Fachpersonen. Neben einem umfangreichen Weiterbildungsangebot hilft FRAGILE Suisse z.B. durch den Erfahrungsaustausch zwischen Betroffenen und bietet unkompliziert Rat bei Fragen zu Sozialversicherungen und Wohnformen. Da im Team von FRAGILE Suisse auch Menschen mit einer Hirnverletzung arbeiten, können neue Rollenmodelle gefunden werden, um das Leben mit Hirnverletzung neu auszurichten und eine gute Lebensqualität zu gewinnen.