Die fünf Sinne des Menschen – Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – wurden im 4. Jh. v. Chr. vom Gelehrten und Philosophen Aristoteles beschrieben. Sie nehmen Reize von ausserhalb des Körpers auf, wandeln diese in Signale um und lösen so letztlich Empfindungen aus. Krankheiten oder ein Unfall können die Sinne beeinträchtigen und sich auf unsere Fähigkeit auswirken, eigenständig in und mit unserer Umwelt zu handeln und zu interagieren.
Wie können die Sinne von Betroffenen beeinträchtigt werden?
Rolf Frischknecht (RF):Das Gehirn analysiert und interpretiert die Informationen, die von den Sinnen aufgenommen werden. Damit verfügt es sofort über eine Zusammenfassung dessen, was um uns herum geschieht, und kann unsere Gestik und unser Verhalten darauf abstimmen. Dabei sind zahlreiche neuronale Schaltkreise und Hirnzentren im Einsatz: Fast das gesamte Gehirn ist involviert, um das Maximum aus diesen Informationen herauszuholen.
Eine Krankheit oder ein Unfall kann ein Sinnesorgan, seine Verbindung zum Gehirn oder das Hirnareal, das die Sinnesinformationen sammelt, direkt betreffen. Dem Gehirn werden dann wichtige Informationen vorenthalten, die es braucht, um korrekt funktionieren zu können. Mit gängigen klinischen und ergänzenden Untersuchungen lassen sich Defizite infolge einer Hirnverletzung relativ einfach feststellen.
Sind hingegen Hirnareale (neuronale Schaltkreise) betroffen, die für die Verarbeitung von Sinnesdaten notwendig sind, sieht die Situation anders aus: Dann kommen die Informationen zwar normal im Gehirn an, können dort aber nicht mehr richtig analysiert werden. Die Ursachen dieser Probleme sind oft nicht so einfach zu ermitteln, aber ihre Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit einer Person sind ausgeprägt und können gar behindernd sein.
Wie lassen sich Beeinträchtigungen des Seh- oder Hörvermögens erklären?
RF: Eine Hirnverletzung kann die Augen oder die Sehbahnen, die sie mit dem Gehirn verbinden, direkt betreffen. Oder die Sehbahnen können auch durch einen Sauerstoffversorgungsmangel geschädigt werden. Ein erhöhter Druck im Kopf aufgrund einer Hirnblutung oder eines Hirnödems kann eine Netzhautblutung, eine Blutung im Glaskörper des Auges oder andere Schäden verursachen. Und das führt zu einem Verlust oder einer Einschränkung des Gesichtsfeldes. Das Sehvermögen kann auch indirekt beeinträchtigt werden, wenn die Schaltkreise zur Analyse der visuellen Informationen von einer Hirnverletzung betroffen sind. Dann kann das Gehirn das, was die Augen sehen, nicht mehr richtig interpretieren.
Ähnlich sieht es beim Hören aus. Um Geräusche und Klänge erkennen und lokalisieren zu können, müssen spezialisierte kortikale Netzwerke aktiviert werden. Sind diese beeinträchtigt, kann ein diffuser Eindruck von «Schwerhörigkeit» entstehen, obwohl das Audiogramm völlig normal ist. Um diese spezialisierten Netzwerke zu untersuchen, sind hochentwickelte bildgebende Verfahren erforderlich.
Sind die Sinne nach einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) oder einem Schlaganfall unterschiedlich betroffen?
RF: Bei einem Schädel-Hirn-Trauma ist der Geruchssinn sehr häufig betroffen. Im Moment des Aufpralls oder eines Schlags bewegt sich das Gehirn hin und her. Dabei entstehen Scherkräfte, die die feinen Riechnerven zerreissen. Und da der Geruchssinn an der Interpretation des Geschmacks beteiligt ist, schmeckt das Essen nach einer solchen Verletzung nicht mehr gleich.
Bei anderen Arten von Hirnverletzungen liegen die Probleme vor allem in den Bereichen, in denen Geruchsinformationen verarbeitet werden. Wenn die Verbindungen im Frontallappen geschädigt sind, können die Betroffenen komplexe Geruchshalluzinationen entwickeln. Aufgrund eines solchen Problems wurde beispielsweise bei einer Person ein Meningeom – ein Tumor, der von den Hirnhäuten ausgeht – diagnostiziert: Freundinnen und Freunde hatten Alarm geschlagen, nachdem ihnen bei der betroffenen Person Geruchshalluzinationen und charakterliche Veränderungen aufgefallen waren.
Wie können die Sinne «zurückerlangt» werden, wenn man von einer Hirnverletzung betroffen ist?
RF: Häufig treten nach der akuten Phase im Spital oder nach der Rückkehr in den Alltag Probleme auf. Man sollte versuchen, die Einschränkungen, die eine Person mit einer Hirnverletzung empfindet, zu verstehen und die zugrundeliegende(n) Ursache(n) zu erkennen. Dann kann ein massgeschneidertes Rehabilitations- oder Wiedereingliederungsprogramm entwickelt werden, das auf die spezifischen Defizite ausgerichtet ist. Die Bandbreite ist gross und alle Ansätze, die die Rehabilitationsmedizin bietet, können in Betracht gezogen werden.
Was raten Sie Menschen mit einer Hirnverletzung, deren Sinne beeinträchtigt sind?
RF: Funktionen, die für eine möglichst vollumfängliche Teilhabe am Leben erforderlich sind, müssen regelmässig trainiert werden. Fachpersonen helfen Betroffenen, die Ursache von Funktionsstörungen zu identifizieren, und können wirksame und angepasste Übungen vorschlagen. Patientenorganisationen wie FRAGILE Suisse und ihre regionalen Verbände sind ebenfalls sehr wertvoll. Sie verfügen oft über einen Schatz an praktischem Wissen der Patientinnen und Patienten, was den Austausch und die gegenseitige Unterstützung ermöglicht.
Interview: Sophie Roulin-Correvon