Mike B., nicht nur für Sabine begann am 29. April 2020 ein neues Leben, auch das Ihrige hat sich seit diesem Tag unwiderruflich verändert. Wie war das zu Beginn?
«Sabine lag 36 Tage reglos auf der Intensivstation im Kantonsspital Aarau. Weil es mitten im ersten Lockdown war, durfte ich sie nur jeden zweiten Tag besuchen. Die Ungewissheit, ob Sabine je wieder lebensfähig sein wird, war emotional fast nicht auszuhalten. Als sie wieder zu sich kam, wurde sie in die Reha Bellikon verlegt. Dort habe ich sie gefordert und ihr kleine Ziele gesetzt. Zum Beispiel bat ich sie, mir jeden Tag einen kleinen Brief zu schreiben. Anfänglich wirkten die Buchstaben eher wie Hieroglyphen. Sabine musste eine enorme Willenskraft aufbringen, um kleine Fortschritte zu erzielen. Und wir beide mussten uns in viel Geduld üben.»
Nach fünf Monaten in der Reha wollte Sabine wieder zurück an ihre Arbeitsstelle als Leiterin Wäscherei der Stiftung Schloss Biberstein. Aber nach dem Arbeitsversuch an drei einzelnen Tagen wurde deutlich, dass das nicht mehr möglich war. Weshalb?
«Sie war nicht mehr belastbar, Fragen von ihren Mitarbeitenden stressten Sabine, sie ermüdete schnell und mit den IT-Systemen kam sie nicht mehr zurecht. Sie wäre einer permanenten Überforderung ausgesetzt gewesen.»
Wie selbständig ist Ihre Partnerin heute und worin braucht sie Unterstützung?
«Sabine hat sich erstaunlich gut erholt und hat körperlich kaum mehr Einschränkungen. Natürlich geht alles viel langsamer und sie braucht ihre Ruhepausen. Die administrativen Arbeiten und alles was mit Ämtern zu tun hat, erledige ich. Gekocht habe schon immer ich, ich bin gelernter Koch. Da für Sabine feste Tagesabläufe sehr wichtig sind, muss ich darauf achten, dass das Essen pünktlich, zur gewohnten Zeit auf dem Tisch steht.»
Sie und Sabine waren seit 27 Jahren ein Paar, als dieses einschneidende Ereignis vor 4 Jahren alles auf den Kopf stellte. Können Sie uns ihre Beziehung vor dem 29. April 2020 schildern?
«Wir haben beide viel zu viel gearbeitet. Abends kamen wir müde und in unsere eigenen Gedanken versunken nachhause. Wir haben zwar einige Freizeitaktivitäten geteilt, wie zum Beispiel Fahrradfahren oder Bogenschiessen – da haben wir sogar an Schweizermeisterschaften teilgenommen. Aber der Alltag war eher ein Nebeneinander.»
Wie sieht ihre Beziehung heute aus? Inwiefern hat sie sich verändert?
«Ich weiss nicht, ob wir heute noch zusammen wären, wenn Sabine nicht ihren Herzinfarkt und die Hirnverletzung erlitten hätte.
Heute hören wir einander zu, gehen viel mehr aufeinander ein. Sabine hat einen Lieblingsspruch: Wenn etwas nicht geht, so machen wir’s eben anders.»
Gibt es Aspekte in eurer Beziehung, die durch Sabines Hirnverletzung sogar positiver geworden sind?
«Die Hektik ist weg, unser Leben ist entschleunigt. Weil für Sabine die Uhren langsamer ticken, gleiche ich mein Tempo an und nehme mir bewusst Zeit für uns. Durch das Geschehene ist das Vertrauen in den Andern viel stärker geworden. Und wir schätzen die kleinen Freuden wieder viel mehr. Auch habe ich einen achtsameren Umgang nicht nur mit meiner Partnerin, sondern mit mir selber gefunden.»
Vermissen Sie gewisse Seiten an Sabine, die sie vor der Hirnverletzung hatte?
«Nein, denn sie ist wieder fast wie früher. Sabine hat schon vor ihrer Hirnverletzung Tagebuch geschrieben. Eine Gewohnheit, die sie bis heute weiterführt. Manchmal, wenn sie in ihren Tagebüchern vor 2020 liest, kommt sie auf mich zu und fragt mich, ob sie vor ihrer Verletzung wirklich so war.»
Was hat dieses Erfahrung mit Ihnen gemacht? Gehen Sie das Leben jetzt anders an?
«Ja. Irgendwann kommen Gedanken auf: Wie lebe ich mein Leben eigentlich? Ist diese Hektik, dieses Tempo nötig? Für wen?
Ich habe uns am Rande eines Waldes ein Haus gebaut, weit weg vom Lärm und der Hektik des Alltags. Dort geniessen wir beide die Ruhe. Wenn ich von der Arbeit komme, parke ich mein Auto ganz bewusst etwa einen Kilometer unterhalb das Hauses. Besonders am Abend geniesse ich das Hochgehen zum Haus, um den Arbeitstag an mir vorbeiziehen zu lassen und mich wieder auf das «Sabine-Tempo» einzustellen. Mein Arbeitspensum habe ich auf 80 % gesenkt und versuche, mich daran zu halten.»
Bieten Familie und/oder Freunde Unterstützung an?
«Es gibt immer wieder mal Zeiten, in denen Sabine mit ihrem Schicksal hadert und es sie traurig macht, dass sie nun für alles viel länger braucht und sie nicht mehr so auf Zack ist wie früher. Besonders schwer ist es zu sehen, wenn sich Kolleginnen und Kollegen immer seltener melden. Für Aussenstehende ist oft nicht nachvollziehbar, wieso gewisse Dinge nicht mehr möglich sind oder sie finden es mühsam, auf Sabine Rücksicht zu nehmen. Wenn wir beispielsweise zu viert am Tisch sitzen, ist das schon eine grosse Herausforderung für Sabine, weil sie sich nicht auf mehrere Gesprächspartner gleichzeitig einlassen kann. Das soziale Umfeld zu verlieren ist für beide sehr hart. Ich habe aber fünf gute Freunde, dich ich auch um drei Uhr in der Nacht anrufen und um Hilfe bitten kann.»
Sie sind ja Mitglied bei FRAGILE Aargau/Solothurn West. Wie und wann sind Sie auf FRAGILE gestossen?
«Sabine ist per Zufall im Internet auf Fragile gestossen. Ich habe mich dann der von Fragile Aargau/Solothurn Ost organisierte Selbsthilfegruppe für Angehörige angeschlossen, was mir sehr geholfen hat. Nach vier Jahren gebe ich nun meine gesammelten Erfahrungen an Angehörige weiter, die erst am Beginn dieses langen Prozesses stehen.»
Was würden Sie sich im Umgang mit Menschen mit Hirnverletzung wünschen?
«Ich würde mir wünschen, dass die Gesellschaft keine Angst hat, Menschen mit einer Beeinträchtigung anzusprechen. Den ersten Schritt zu machen und ein Gespräch zu beginnen, würde Interesse zeigen und Betroffenen gut tun.
Von Abklärungsstellen würde ich mir wünschen, dass sie Betroffenen und Angehörigen mehr Zeit für Entscheidungen geben. Z.B. nicht zu verlangen, dass bereits nach kurzer Zeit klar sein muss, was für eine Anschlusslösung nach der Reha angestrebt wird.»
Was möchten Sie anderen Angehörigen mit auf den Weg geben?
«Sich selber nicht zu vergessen. Die Belastung, besonders am Anfang, ist enorm. Als Sabine auf der Intensivstation lag, hat mir ein Arzt gesagt, ich solle jetzt einfach mal fünf Tage nicht kommen. Das habe ich befolgt. Eine Auszeit zu nehmen und z.B. mit einem Freund das Wochenende woanders zu verbringen tut gut. Der Partner wird das verstehen.»
Der zweite Punkt: Sich bei Entscheidungen nicht von aussen drängen lassen. Sich Zeit nehmen, aber es sich auch nicht unnötig schwer machen, denn die Entscheidungen, die man für den Partner trifft, sind in dem Moment die richtigen.
Und zuletzt: Du bist nicht alleine. Ich war manchmal überrascht, wie breitwillig mir geholfen wurde. Aber man muss sich eingestehen, dass man Hilfe braucht. Und Hilfe annehmen können. Ich habe sehr viel gelernt vom Wissen und der Erfahrung diverser Beratungsstellen.»