«Wie soll ich mich an mein neues Ich gewöhnen, wenn ich immer den Namen von jemandem höre, der ich nicht mehr bin?», fragt Edi S. Der heute 32-Jährige hiess bis vor ein paar Jahren anders, er hat seinen Namen geändert. Denn ein schwerer Unfall beendete das Leben, das er als M.K. führte – so hiess Edi S. mit Geburtsnamen. Er liess sich ein Tattoo stechen mit den Initialen seines früheren Namens sowie RIP (Englisch für Rest in Peace – Ruhe in Frieden) und begrub damit symbolisch seine frühere Identität.
Mit seinem Kickboard unterwegs an eine der letzten Maturaprüfungen, wurde er vor elf Jahren von einem Auto angefahren. Diagnose: schweres Schädel-Hirn-Trauma. Dieses führte zu bleibenden Schädigungen und einer starken Persönlichkeitsveränderung. Edi S. lag fast 20 Tage im künstlichen Koma. Auch an die darauffolgenden sechs Wochen im Spital vermag er sich nur bruchstückhaft zu erinnern.
In der Reha machte er zwar schnell Fortschritte, doch in seinem Leben war nichts mehr wie zuvor. «Ich war 20 Jahre alt, konnte nicht zurück, nicht vorwärts. Alle meine Freunde wollten nach und nach nichts mehr von mir wissen, ich musste mich selber neu kennen lernen, Dinge neu lernen, die für andere selbstverständlich sind.» Vor dem Unfall wusste Edi S. genau, wie sein Leben aussehen sollte, der Plan stand: Matura abschliessen, in Zürich Mathematik studieren, eine nette Frau kennen lernen und später eine Familie gründen. «Mathematik zu studieren war mein grösster Traum, darauf habe ich hingearbeitet», erzählt er. Seine Stimme klingt traurig. Noch heute kämpft er mit seinem Schicksal. So richtig ins Leben zurückgefunden hat er nicht, obwohl er sich bemüht.
Zwischen Stuhl und Bank
Trotz den Folgen seines Unfalls beendete Edi S. nach etwa einem halben Jahr die Matura und fing sogar sein Mathematikstudium in Zürich an. «Nach ein paar Wochen musste ich mir selber eingestehen, dass es nicht geht», erzählt er. Das war ein schlimmer Moment. Er fiel in ein tiefes Loch. Irgendwie rappelte er sich nach einiger Zeit wieder auf. Im Internet lernte er eine Frau aus Deutschland kennen. Die beiden kamen zusammen und bezogen gemeinsam in Luzern eine Wohnung. Eine Weile hielt die Beziehung, irgendwann gab es zu viele Missverständnisse. Zum zweiten Mal brach seine Welt zusammen. Edi S. lebte wieder alleine, ohne Tagesablauf, ohne Aufgabe. Aufstehen, essen, Serien schauen, Musik hören, Online-Games spielen und schlafen. «Ich habe nicht nach der Uhr oder nach Tagen gelebt, ich habe einfach nur überlebt.» Es folgten Aufenthalte in verschiedenen Institutionen und Kompetenzzentren für Menschen mit einer Hirnverletzung. Die ihm dort übertragenen Aufgaben, wie in der Küche zu helfen, konnte er manchmal erledigen, manchmal nicht. Den richtigen Platz fand er nicht. Heute lebt er in Bern in einer eigenen Wohnung. Einmal pro Woche hilft er in einem Quartierrestaurant aus und erledigt, was gerade anfällt. «Besonders beliebt sind meine Brownies, die ich dort backe», erzählt er. Edi S. fühlt sich irgendwie «zwischen Stuhl und Bank». Er möchte zwar viel unternehmen, schafft es jedoch nicht. «Wie wenn du einen Ferrari in der Garage hast, aber keinen Fahrausweis», versucht er seinen Zustand, seine Gefühle zu beschreiben. Der 32-Jährige ist hoch intelligent, aber er kann seine Intelligenz nicht auf Kommando einsetzen. Das nervt ihn und macht ihn traurig. Er macht sich viele Gedanken. Unendlich viele. «Das kostet Energie und hält mich oft vom Schlafen ab.» Das lange Alleinsein verstärke sein Bedürfnis nach Beschäftigung und Gesellschaft. «Aber Beschäftigungen und Gesellschaft kosten wiederum viel Energie.» Ein Teufelskreis, aus dem er immer wieder versucht herauszukommen, es aber nicht schafft.
Geringes Selbstwertgefühl
Ein paar Gruppentreffen für Betroffene und Angehörige von FRAGILE Bern Espace Mittelland besuchte er zusammen mit seiner Mutter. Sie war ihm eine grosse Stütze und bis vor ein paar Jahren seine einzige Bezugsperson. Der Kletterkurs von FRAGILE Suisse, an dem er regelmässig teilnimmt, bereitet ihm grossen Spass. Zu den Treffen, die ihm eigentlich gefielen, würde er gerne wieder hingehen. «Ich möchte, aber ich gehe nicht», sagt er. Der Ansporn und der Wille seien zwar da, aber mit der Umsetzung klappe es nicht. Manchmal werde er von seinen Mitmenschen als mühsam bezeichnet. Er erklärt es so: «Ich habe ein Problem, das man nicht sieht und das die meisten Menschen nicht verstehen.Dieses Problem macht es für mich schwierig, alleinezu sein, und für andere mühsam, mit mir zusammen zu sein.» Das zehrt immer wieder an seinem Selbstwertgefühl. «Manchmal wünsche ich mir, ich würde im Rollstuhl sitzen, aber mein Gehirn wäre noch in Ordnung», sagt er. Er wünscht sich eine Aufgabe, eine sinnvolle Tätigkeit, die ihn erfüllt und diese Gedanken vergessen lässt.
Text: Carole Bolliger (Magazin FRAGILE Suisse 4/2018, p.4)
Magazin FRAGILE Suisse
Magazin 4/2018 - PDF
Bestellen oder abonnieren