Gilles und Danielle Zufferey begrüssen uns herzlich in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Martigny. «Es passierte 2012, unsere Tochter war 20», beginnt Gilles. «Im Mai», präzisiert Danielle. Damals arbeitete sie Vollzeit als Englischlehrerin in Martigny und war zudem Richterin an einem Gericht in Monthey. «Schon über ein Jahr davor gab es Momente, in denen Danielle ein Wort nicht sagen konnte, das sie klar im Kopf hatte», berichtet Gilles. Die Untersuchungen ergaben jedoch nichts. Am fatalen Sonntagmorgen konnte Danielle nicht mehr sprechen und sich nicht bewegen. Die Tochter ruft Gilles an, der sich im Ausland aufhält: «Mama geht es nicht gut, du musst kommen.» In der Notfallstation in Martigny geht man von einer Migräne aus, Danielle wird nach Hause geschickt, ohne dass ein Hirnscan gemacht wird. Ihr ischämischer Schlaganfall* bleibt deshalb unerkannt. Je nach ihrer Position verschiebt sich das Blutgerinnsel und drückt auf die Hirnregionen, die für die Sprache und die Motorik zuständig sind. Danielle wird schliesslich doch vom Spital Martigny ins Spital Sitten und von da ins Universitätsspital Genf (HUG) verlegt. Während sie notfallmässig operiert wird, um das Gerinnsel zu entfernen, kommt es zu einer Hirnblutung**.
Getrennt leben während der Reha
Nach dem Spitalaufenthalt kommt Danielle zuerst in die Clinique romande de réadaptation (CRR) der Suva, danach zur Fondation Valais de Coeur. Während dieser vier Jahre müssen Danielle und Gilles getrennt leben. Danielle macht hauptsächlich Ergo-, Physio- und Logopädie. Sie und Gilles fühlen sich in dieser Zeit von wunderbaren Menschen und Fachpersonen umgeben. «Freundliche», bestätigt Danielle mit erhobenem Daumen. Auch die Familie und Freunde sind eine grosse Unterstützung, weil zu den Alltagssorgen aufgrund des langen IV-Verfahrens noch finanzielle kommen.
Neues Leben
Nach dem Schlaganfall fällt Danielle in eine tiefe Depression. «Sehr grosse Traurigkeit», sagt sie leise und bewegt. Nach einem halben Jahr ist sie jedoch ein völlig neuer Mensch. Sie kann mit der Trauer um ihr früheres Leben abschliessen und entwickelt eine starke Lebensfreude. Sie zeigt uns eine Skulptur der Argonauten, die sie aus Olympia in Griechenland mitgebracht hat. Sie stellt eine Person mit weit ausgestreckten Armen dar. «Freiheit!», sagt Danielle bestimmt. Man glaubt kaum, dass diese strahlende Frau rechtsseitig gelähmt ist und unter einer umfassenden Aphasie leidet. Sie kann sich weder ausdrücken noch lesen. Zudem ermüdet sie schnell und ist emotional sehr dünnhäutig, was Gilles so an ihr nicht gekannt hatte: «Ein Staubkorn in der Maschinerie bringt alles zum Stillstand.» Jeden Morgen ruft er seine Frau über Video an, drei Minuten nachdem er das Haus verlassen hat, um ihr einen schönen Morgen zu wünschen. Kommt der Anruf ein paar Minuten später, ist dies für Danielle schon eine Katastrophe. Sie schaut Gilles zärtlich an und schenkt ihm ein nettes Lächeln.
Als Paar zusammenfinden
Danielle braucht auch Gilles’ Hilfe beim Anziehen. «Bis vor ein paar Monaten war ich Profi mit dem Eyeliner, nun schminkt sich Danielle wieder selbst», schmunzelt er. Diese intime Nähe auch in Bereichen, die sie davor nicht teilten, hat das Paar näher zusammengebracht. Gilles muss auch kochen. «Gut!», sagt Danielle zu den Mahlzeiten ihres Gatten. «Das Leben eines pflegenden Angehörigen gibt auch Befriedigung. Es ist nicht einfach, aber schön und wertvoll», meint Gilles. Danielles robustes Gemüt (Gilles) wirkt kommunikativ, und dank ihrer erhöhten Sensibilität sieht Gilles Dinge, die ihm vorher entgangen sind: «Das sind kleine Glücksmomente.» Das Paar vermisst sein früheres Leben kaum. Danielle fährt nicht mehr Motorrad, jedoch einen Elektroroller und malt im Rahmen einer Kunsttherapie im Atelier von Valais de Coeur. Die Lektüre fehlt ihr, früher hat sie viel gelesen. «Wir führen ein angenehmes Leben und fühlen uns nicht isoliert», erklärt Gilles. «Man muss lachen», fügt Danielle hinzu, ihr Mann nickt lächelnd. Gilles spricht, und Danielle bestätigt, berichtigt oder präzisiert mit ihren Einwürfen. Sie organisiert auch Ausflüge mit ehemaligen Kolleginnen, die sie jeden Freitag für ein Mittagessen oder einen Apéro abholen. «Ein Schlaganfall ist nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem, das sehr bereichernd und schön sein kann. Zuerst ist es schwierig, man muss sich anpassen. Aber das Leben ist genauso schön, sogar noch schöner als zuvor», sagt Gilles. «Licht», sagt Danielle und zeigt auf die Sonne als Symbol für das Leben.
Vizepräsident von FRAGILE Valais
Während Danielles Aufenthalt bei der Fondation Valais de Coeur war Gilles oft dort. Mehrere Fachpersonen machten ihn auf die Neugründung von FRAGILE Valais aufmerksam. Für Gilles war es ein logischer Schritt, sich zu engagieren, er ist Vizepräsident der Organisation. «Wir haben das Glück, zu zweit zu sein, wir können uns austauschen. Für Alleinstehende ist es hart, aber wir können ihnen die Hand reichen», erklärt er. Er hat bemerkt, dass die Selbsthilfegruppen für die meisten Teilnehmenden extrem wichtig sind. Es freut ihn zudem, dass die Sensibilität für das Thema Schlaganfall wächst und dies auch Auswirkungen auf die Politik hat.
* Ischämischer Schlaganfall, Gefässverschluss: Verschluss eines Blutgefässes durch ein Blutgerinnsel
* *Hämorrhagischer Schlaganfall: Hirnblutung durch die Verletzung von Gefässen im Gehirn
Text: Sophie Roulin-Correvon