«Den 30. April 2011 werden wir nie mehr vergessen: Ich nahm ein Medikament gegen Sodbrennen - und plötzlich hatte ich eine allergische Reaktion mit Atemnot und Schwellungen», erzählt Karl S. Seine Frau Marisa rief den Notarzt und fuhr vor dem Krankenauto mit der damals 2-jährigen Tochter Sofia in die Notaufnahme. «Doch das Krankenauto kam einfach nicht», erzählt sie. Der Grund: Ihr Mann hatte auf der Fahrt einen Herzstillstand erlitten. 27 Minuten lang wurde der 30-Jährige reanimiert. «Reanimiert, dann ist ja jetzt alles gut‘, dachte ich», sagt Marisa S. Doch alles kam anders. Während des Herzstillstands wurde Karl S. Gehirn nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Die Folge: Eine Hirnverletzung. Im Krankenhaus wurde er ins künstliche Koma versetzt und lag vier Wochen auf der Intensivstation.
«Ich konnte nicht mal den Löffel halten»
Ende Mai 2011 wurde Karl S. ins REHAB Basel verlegt, wo er einige Wochen im Wachkoma lag. «Jeden Tag prasselte Neues auf mich ein. Ich konnte nicht einordnen, was gerade mit uns geschah.» Marisa S. begann im Internet zu recherchieren. «Sehr bald stiess ich auch auf die Webseite von FRAGILE, wo ich hilfreiche Informationen fand und Geschichten anderer Betroffener las.» Bald suchte Marisa S. den Kontakt zu Paula Gisler, der Helpline-Beraterin von FRAGILE Suisse. «Sie vermittelte mir Kontakte, hörte mir zu – sie merkte, wie sehr die Situation auch mich als Angehörige mitnimmt.»
Nach einigen Wochen erwachte Karl S. aus dem Wachkoma. Er konnte nicht mehr laufen und seine motorischen Fähigkeiten waren stark eingeschränkt. «Ich war wie ein Baby, konnte nicht einmal den Löffel halten. Geredet habe ich hingegen sofort wieder», sagt er. Der kleinen Sofia machten seine mitunter unkoordinierten Bewegungen Angst. Heute kann er wieder laufen, kämpft jedoch weiterhin mit Gleichgewichtsproblemen und hat Schwierigkeiten sich im Raum zu orientieren. Zudem fällt es ihm in lärmiger Umgebung schwer, sich zu konzentrieren.
Zu Weihnachten nach Hause
Vor dem «Unfall» war Karl S. Geschäftsführer einer IT-Firma. Aus dem Verkauf hatte er sich zu dieser Stelle hochgearbeitet. «Das war stets mein Ziel.» Seine Frau Marisa gab ihm Rückendeckung und übernahm nach der Geburt der Tochter gerne die Rolle der Hausfrau. Bis zu seinem Herzstillstand waren sie seit 8 Jahren ein Paar und seit 4 Jahren verheiratet. «Es gab für mich nie einen Zweifel, dass mein Mann zurück nach Hause kommen sollte und wir das alles zusammen durchstehen würden», sagt sie. «Doch es gab viele Hochs und Tiefs.»
An Weihnachten 2011 kehrte Karl S. erstmals für ein paar Tage in die Familienwohnung zurück, im Rollstuhl. «Wir wünschten uns das so sehr», sagt Marisa S. Zuhause aber zeigte sich, dass Karl S. noch zu stark auf Hilfe angewiesen war. «Es ging einfach nicht. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, als ich ihn zurückgefahren habe.» Karl S. litt mit ihr: «Sie so zu sehen, hat mir sehr wehgetan.»
Später kam er ins Haus Selun, wo er auf ein selbstständiges Leben vorbereitet wurde. Dort habe er grosse Fortschritte gemacht: «Als ich mit dem Physiotherapeuten 800 Meter gelaufen bin ohne Hilfe, habe ich zum ersten Mal gedacht: 'Jetzt hab ich es geschafft!'» Jedes Wochenende holte Marisa S. ihren Mann im Haus Selun ab. Zuhause installierte sie rutschfeste Teppiche auf der Treppe und besorgte Hilfsmittel, zum Beispiel Teleskopstangen im Schlafzimmer, an denen er sich aufziehen kann, wenn er nachts ins Bad muss. Zudem stand sie in Kontakt mit Paula Gisler von FRAGILE Suisse. «Sie hat immer wieder nachgefragt, wie es uns gehe. Das war gut, denn ich hatte so viel um die Ohren, musste so viele Entscheidungen alleine treffen, dass ich selbst nicht ans Anrufen gedacht hätte. Dabei taten mir die Gespräche so gut.»
«Meiner Frau verdanke ich alles»
Mitte 2013 kehrte Karl S. endgültig nach Hause zurück. «Es war schön und zugleich spürte ich, dass ich meiner Frau nicht der Ehemann und meiner Tochter nicht der Vater war, den ich sein wollte», erinnert er sich. «Schnell zum Bancomat Geld holen oder mit Sofia zum Spielplatz, das geht nicht. Ich kann mich draussen nicht orientieren, und allein komme ich auch nicht die Treppe runter.»
Marisa S. setzte sich dafür ein, dass ihr Mann in eine Tagesklinik kommt. Im Luzerner Kantonsspital wurden sie fündig, dort verbrachte er einige Tage pro Woche. Inzwischen hat sich die Familie eingelebt: «Ich fühle mich wohl und bin froh, bei meiner Familie zu sein.» Seit Anfang Jahr arbeitet der 33-Jährige halbtags in der ZUWEBE, einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen, an seinem Wohnort im Kanton Zug. «Dort packe ich zum Beispiel Zimtstangen ein oder reinige Modems.» Irgendwann wolle er an seine alte Stelle zurückkehren. «Doch am Leben zu sein, ist das wichtigste», sagt er. «Und eins weiss ich: Ohne meine Frau wäre ich heute nicht hier. Ihr verdanke ich alles.»