2015 feierte Christian seinen 50. Geburtstag. Eben hatte er drei Wochen Ferien in Tansania verbracht. Am Montag, den 10. August, verstand sein Kollege plötzlich nicht mehr, was Christian sagte. Er sah, wie dieser sein Gesicht verzog und sein linker Arm steif wurde. Sofort alarmierte er die Ambulanz, und als er zurückkam, lag sein Freund am Boden. Christian Salamin erinnert sich an ein schwarzes Loch mit Blitzen. Im Helikopter, der ihn ins Universitätsspital in Lausanne flog, spürte er, wie sein Körper in eine Art Tunnel eintauchte: «Ich klammerte mich fest, wollte nicht gehen», sagt er.
Verursacht wurde der Schlaganfall durch ein Gerinnsel in der inneren Halsschlagader. Nach dem Scheitern einer Thrombolyse (Auflösung eines Blutgerinnsels) wurde eine zweimalige Thrombektomie (operative Entfernung eines Blutgerinnsels) durchgeführt. Danach erlitt Christian Salamin eine Hirnblutung und ein Ödem, das Druck auf sein Gehirn ausübte: «Diese fünf Tage waren die Hölle, ich hatte extreme Kopfschmerzen.» Nach drei Wochen Behandlung im CHUV wurde er in die Westschweizer Reha-Klinik der Suva verlegt. Dort verbrachte er über zwei Monate. Die Neurologen konnten sich diesen Schlaganfall nicht erklären: Bei Christian Salamin war kein einziger Risikofaktor vorhanden. Er konnte es sicher seinem ausgezeichneten Gesundheitszustand verdanken, dass er nicht gestorben ist und sich ziemlich gut erholte. Auch heute noch verbringt er regelmässig dreiwöchige Aufenthalte in der Reha-Klinik, um weitere Fortschritte erzielen zu können.
Familiärer Schock und Unterstützung durch Angehörige
Eine Folge des Schlaganfalls ist ein Pes varus equinus*: Christian kann also nicht mehr gehen, auch nicht mit Krücken. Zudem ist er rechtseitig gelähmt, leidet unter Spastik** mit den damit verbundenen Schmerzen und einem multimodalen Hemineglect, einer Aufmerksamkeitsstörung, auf der linken Körperhälfte. Dessen ist er sich heute bewusst und er kann ihn kompensieren. Sein Ultrakurzzeitgedächtnis ist beeinträchtigt und er kann seine Emotionen nicht mehr so gut kontrollieren: «Wenn ich eine Ambulanz mit Sirene und Blaulicht sehe, fange ich grundlos an zu weinen.» Vor seinem Schlaganfall war Christian ein überzeugter Cartesianer***. Heute meditiert er viel, um sich auf seinen Körper und sein Erleben zu konzentrieren. «Ich musste lernen, geduldig zu sein. Vor dem Schlaganfall lebte ich nach dem Sekundenzeiger, heute lebe ich nach dem Stundenzeiger.»
Für Christian Salamins vier Kinder war dieses Drama ein furchtbarer Schock. Sie brauchten Zeit, um die Folgen zu verstehen, unter denen ihr Vater litt und auch heute noch leidet. In den letzten Jahren haben sie alle auf ihre Weise gelernt, das Erlebte zu verarbeiten und sich vom Vater zu verabschieden, den sie vor dem Schlaganfall kannten. «Ich weiss nicht, wie sie mich heute im Vergleich zu meinem früheren «Ich» sehen. Aber ich bin sehr stolz auf meine Kinder und ihre Entwicklung», sagt Christian Salamin.
Cinzia, eine enge Freundin von Christian, war eine wichtige Stütze für ihn. Sie konnte ihn auch in schwierigen Situationen zum Lachen bringen. Einige Zeit nach Christian Salamins Schlaganfall heirateten die beiden.
Leidenschaftlicher Unternehmer
Christian, ein Autodidakt im Informatikbereich, gründete mit 25 Jahren sein erstes Unternehmen. Alleine oder als Partner liess er bis 2015 rund ein Dutzend Firmen eintragen. Einige Monate vor dem Schlaganfall hatte er zwei Mal einen beängstigenden Albtraum: «Ich sah mich in einem Rollstuhl in der Reha-Klinik.» Dieser Traum beeindruckte ihn so sehr, dass er kurz darauf in seiner Firma alles für seine Abwesenheit organisierte und die Vollmachten für seine Sekretärin vorbereitete. «In der Suva-Klinik habe ich dann genau diesen Rollstuhl gesehen», bekräftigt er. In den ersten zwei Jahren nach dem Schlaganfall kehrte Christian an die Arbeit zurück. Da er aber keine kohärenten und rationalen Entscheidungen mehr treffen konnte, verkaufte er seine Firma Ende 2017. «Ich habe um mein Berufsleben getrauert und eine Mauer um mich herum aufgebaut, um keine Gefühle zuzulassen. Dieser Teil ist aus meinem Leben gestrichen.» Mit Hilfe von Sozialarbeiterinnen der Rehaklinik der Suva reichte er im November 2015 sein IV-Gesuch ein. Der Entscheid betreffend seiner Arbeitsunfähigkeit und der Höhe der IV-Rente fiel mehr als zwei Jahre später. Während sechs Monaten hatte er kein Einkommen.
FRAGILE Wallis: Die Gesprächsgruppe als Unterstützung
Christian ist ein aktives Mitglied von FRAGILE Wallis und nimmt regelmässig an den Gesprächsgruppen teil. «Das erste Mal muss man sich überwinden, aber dann werden die Treffen unverzichtbar. Und den Angehörigen helfen sie, zu verstehen, wer dieser neue Mensch ist.» Christian kann diese Gruppen nur empfehlen. «Vielen Dank an FRAGILE für die Hilfe und Unterstützung!»
Ride for Stroke: eine Velotour, um für Schlaganfälle zu sensibilisieren
Aufgrund des Schlaganfalls kann Christian Salamin nicht mehr auf ein Velo steigen. Seine Frau empfahl ihm aber, ein massgeschneidertes Dreirad auszuprobieren. Er war begeistert und hat sich nun zum Ziel gesetzt, 2021 die 5400 km lange Strecke von Norwegen bis Spanien unter die Räder zu nehmen. «Damit will ich dem, was mir geschehen ist, einen Sinn geben. Ein Schlaganfall kann jeden treffen, aber man kann sogar einen schweren Schlaganfall überstehen und sich ein anderes Leben aufbauen.» Für jeden von ihm auf dem Velo zurückgelegten Kilometer können Interessierte Geld spenden. Aktuell sucht sein Team auch noch nach Sponsoren. Sobald das Projekt vollständig finanziert ist und vorausgesetzt, dass die Corona-Situation es erlaubt, wird er losfahren. Das Geld, das er während seiner Velotour als Spenden sammelt, kommt FRAGILE Wallis zugute. Mehr über dieses Projekt in dieser Ausgabe in unserer französischen Rubrik «Engagement».
* Spitzfuss: Ein Spitzfuss ist eine Fehlstellung des Fusses, bei der ein Fersenhochstand im Vordergrund steht. Die Ferse kann beim Gehen nicht auf den Boden aufsetzen.
** Schlechte Kommunikation zwischen zentralem Nervensystem und Muskeln
*** Cartesianismus: René Descartes war ein französischer Philosoph, der als Begründer der modernen Philosophie und als Wegbereiter der "Aufklärung" gilt.
Text: Sophie Roulin-Correvon