«Ich habe meinen Mann verloren»

Beide standen mitten im Leben, hatten grosse berufliche Ziele. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Mit 54 Jahren erlitt Markus H. in den gemeinsamen Sommerferien einen Hirnschlag. Von einem Moment auf den anderen stand sein Leben Kopf – jenes seiner Frau ebenfalls. Susanne H. hatte nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch ungefragt einen schwerkranken Partner dazugewonnen. Dennoch haben es die beiden geschafft: heute führen sie wieder eine glückliche – wenn auch andere – Beziehung.

Beide standen mitten im Leben, hatten grosse berufliche Ziele. Doch das Schicksal hatte andere Pläne. Mit 54 Jahren erlitt Markus H. in den gemeinsamen Sommerferien einen…

Eine Frau sitzt in ihrem Wohnzimmer auf einem Sessel und blickt auf ihr Handy.

Symbolbild. Quelle: Keith Tanner / Unsplash

Es war ein normaler Sommer. Die beiden standen mitten im Leben, hatten gerade erfolgreich ihre Weiterbildungen abgeschlossen. Die gemeinsame Auszeit auf einem Hotelschiff war wohlverdient und sollte ein wenig Erholung bringen.

Doch als Susanne H. am zweiten Morgen erwachte und ihr Mann nicht neben ihr lag, fand sie ihn kurz darauf im Badezimmer. Er war kaum ansprechbar, konnte nur noch knapp «nein» sagen, seine eine Gesichtshälfte hing herunter. Obwohl Susanne H. zu diesem Zeitpunkt noch keine Erfahrungen mit Schlaganfällen hatte, war der Fall für sie klar. Sofort informierte Sie den Nachtportier und dieser wiederum die Ambulanz. Es folgte eine intensive und ungewisse Zeit.

«Das Schlimmste war, dass ich nicht einmal mehr die Grundbedürfnisse meines Mannes verstehen konnte. Und das nach 30 Jahren Ehe.», sagt Susanne H.

Die ganze Last auf ihren Schultern

Plötzlich musste Susanne H. alle Entscheidungen alleine treffen – insbesondere jene für ihren Mann. Die beiden hatten noch keine Patientenverfügung, es war nichts geregelt. Richtig realisieren, was da passiert war und was die Hirnverletzung ihres Mannes für sie und ihre Beziehung bedeutet, konnte sie zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht:

«Ich musste einfach funktionieren. Und ich habe funktioniert.» So blieb keine Zeit, das Ganze an sich ranzulassen. Auch nicht, als der Oberarzt nach ein paar Tagen zu ihr meinte, sie hätte einen schwerkranken Mann. Erst Wochen später, als ihr Mann in der Reha einen Infekt erlitt und es ihm sehr schlecht ging, kam die Angst.

Was half, waren all die Verwandten, Freunde und Bekannten, die während dieser schweren Zeit für sie und ihren Partner da waren. Aber es gab auch Freundschaften, die in die Brüche gingen. Sie konnten nicht mit der neuen Situation, dem neuen Markus, umgehen. Was Susanne H. trotz Wehmut verstehen konnte.

Doch es gab auch Kontakte, die mit der Hirnverletzung neue Fahrt aufgenommen haben, seither enger und intensiver sind. Was schwierig war: Immer stand der Betroffene im Mittelpunkt. Alle wollten wissen, wie es Markus geht, ob er Fortschritte macht. «Wie es mir geht, hat nie jemand ernsthaft gefragt.»

Erst Wochen danach wurde Susanne H. von einer Freundin nach ihrem eigenen Wohlbefinden gefragt. Sie brach in Tränen aus. Endlich konnte sie ihre Gefühle zulassen und wurde gehört. «Zu Beginn habe ich mir selbst nicht eingestanden, dass ich den Partner, den ich vor mehr als 30 Jahren gewählt hatte, verloren habe. Und auch mein Umfeld hat das nicht getan. Ich musste mir anhören, ich könne ja froh sein, dass ich Markus noch habe.»

Der Austausch mit einer anderen Angehörigen, in einer ähnlichen Situation, hat ihr deshalb enorm geholfen. Denn wer könnte eine solche Situation besser verstehen, als jemand, der sie selbst durchlebt hat? Ihr Hausarzt hat ihr diesen Kontakt damals vermittelt.

Ungeahnte Folgen für ihn, sie und die Beziehung

Markus H. konnte nach seinem Hirnschlag nicht mehr sprechen, er konnte überhaupt nicht mehr kommunizieren. Weder mit Worten, Mimik oder Gestik noch mit Symbolen. Das war wohl für beide das Schlimmste. Denn in ihrer bisherigen Beziehung pflegten sie immer eine sehr offene und intensive Kommunikation.

Heute kann Markus H. wieder relativ gut kommunizieren, doch bis dahin war es ein sehr langer Weg, der unglaublich viel Geduld erforderte. Noch immer kommt es regelmässig zu Verständnisproblemen, beispielsweise bei Arztbesuchen, woraufhin er mit Rückzug reagiert. Überdies erlitt Susannes Mann eine sogenannte Hemiplegie, eine Lähmung einer Körperhälfte. Seither sitzt er im Rollstuhl. Er leidet unter kognitiven Einschränkungen und nicht selten fehlt es ihm an der nötigen Empathie. Susanne H. musste lernen, damit umzugehen und merken, dass sie «verletzt» sein darf.

«Mein Mann war nicht mehr derselbe. Wir mussten uns nochmals völlig neu kennenlernen.» Die Folgen der Hirnverletzung hatten auch eine neue Rollenverteilung zur Folge. Während Markus H. früher für die Finanzen zuständig war, gut und gerne gekocht hat und handwerklich begabt war, musste seine Frau diese Aufgaben plötzlich ebenfalls übernehmen. Das war für beide eine grosse Herausforderung. Für Susanne H., weil sie es eigentlich gar nicht wollte oder konnte und für ihren Mann, weil er akzeptieren musste, dass er es nicht mehr konnte und sie «machen lassen» musste.

Vor allem zu Beginn führte dies zu vielen Konflikten, stellte ihre Beziehung immer wieder auf die Probe. «Natürlich gab es auch einen Moment, in dem ich über eine Trennung nachgedacht habe. Ich war völlig überfordert mit der neuen Situation, habe mir vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn ich jetzt einfach davonfahren würde.» Doch das Pflichtbewusstsein, die enge Bindung zueinander und vielleicht auch die Fragen «Was mache ich dann? Wo gehe ich hin?» haben sie daran gehindert. Vermutlich wäre das nur ein sehr lauter Hilfeschrei gewesen.

Denn als es um den Austritt aus der Reha ging, wurde Susanne H. nie gefragt, ob sie ihren pflegebedürftigen Mann überhaupt nach Hause nehmen kann. Es wurde einfach entschieden. Allgemein war da sehr wenig fachliche Unterstützung und die Überforderung endete schliesslich in einer Erschöpfungsdepression. Susanne H. wurde krankgeschrieben, wodurch sich zumindest das Problem der Betreuung für ihren Mann löste.

Wenn sie heute zurückblickt, sagt sie klar: «Ich hätte jemanden gebraucht, der aktiv auf mich zugekommen wäre.» Sie selbst hatte damals nicht die Kraft und die Energie, sich Hilfe zu suchen. Das FRAGILE Suisse mit ihrem Angebot LOTSE genau dort ansetzt, begrüsst sie daher sehr.

Akzeptieren was war und ist – und nach vorne blicken

Susanne H. ist überzeugt: «Etwas vom Wichtigsten nach einem solchen Schicksalsschlag ist das Vertrauen ineinander».

Es spielt eine zentrale Rolle, wie die Beziehung vor dem Ereignis war. Sie und ihr Mann hatten eine gute Beziehung und er hatte auch nach dem Hirnschlag vollstes Vertrauen in sie, was Fluch und Segen zugleich war. Einerseits war es für sie eine zusätzliche Last – bedeutete es doch eine grosse Verantwortung, diesem Vertrauen gerecht zu werden – andererseits aber auch die Voraussetzung, damit es weitergehen konnte.

Die beiden mussten neu kommunizieren lernen – auf einer ganz anderen Ebene – und lernten sich so viel tiefer kennen. Sie mussten sich wieder aufeinander einlassen und akzeptieren, dass gewisse Dinge nicht mehr möglich sind. Aber sie durften auch erkennen, dass es schöne Dinge gibt, die sie gemeinsam geniessen können. «Ich merkte, dass ich mich nicht ständig fragen durfte, warum ich, warum wir. Diese Opferrolle schwächte mich zu sehr.»

Vielmehr solle man das in den Fokus stellen, was (noch) geht und sehen, was man aus dieser Situation für sich gewinnen kann. In der Zeit, in der sie zwangsweise viel zuhause war, hat Susanne ihre kreative Ader entdeckt. Insbesondere bei der Verarbeitung hat es ihr sehr geholfen.Früher war es eher ihr Mann, der sich künstlerisch und musikalisch betätigt hat. Doch heute haben sie beide Gefallen daran. Und auch noch 14 Jahre nach dem Ereignis, bestärken sie die Fortschritte ihres Mannes täglich darin, weiterzumachen. «Es ist die Dankbarkeit, die hilft und vielleicht auch der Glaube. Auch wenn wir nur wenig in die Kirche gehen und darüber sprechen, bin ich überzeugt, dass uns die Verwurzelung im Glauben getragen hat.»

Die eigenen Bedürfnisse erkennen und kommunizieren

Susanne H. hat gelernt, ihre Bedürfnisse zu erkennen und diese ihrem Partner auch mitzuteilen. Sie hat erkannt, wie wichtig es ist, auf sich selbst zu hören und gewisse Punkte durchzusetzen, auch wenn er anderer Meinung ist, «Heute haben wir eine andere Beziehung, aber nichtsdestotrotz eine sehr schöne.» Während ihr Mann gerne und regelmässig in ein Tageszentrum geht, wo er förmlich aufblüht, schätzt Susanne H. die Zeit für sich. Sie betont auch, wie wichtig es sei, sich ein Umfeld neben dem Ehepartner aufzubauen, ein Ort, an dem nicht die Hirnverletzung im Zentrum steht. Diesen Ausgleich hat sie in einem Bridge-Club gefunden, wo sie auch neue Freundschaften knüpfen konnte.

«Zu Beginn habe ich gesagt, dass ich meinen Mann verloren habe. Aber vielleicht stimmt das so nicht ganz. Ich bin einfach auf seinen wahren Kern vorgestossen und habe ihn auf einer völlig neuen, tieferen Ebene kennengelernt.» Auch wenn heute alles anders ist, einige Träume begraben werden mussten und gewisse Dinge früher einfacher waren: «Es hat sich gelohnt, dranzubleiben.»

Einer der Schlüsselmomente war für Susanne H. der Austausch mit einer anderen Angehörigen. Bis heute ist sie dafür unglaublich dankbar. Da sie selbst erfahren musste, was es bedeutet, einen Ehepartner mit Hirnverletzung zu haben und wie einsam man sich fühlen kann, möchte sie anderen Angehörigen heute etwas weitergeben. Als Peer-Beraterin von FRAGILE Aargau/Solothurn Ost steht sie für Gespräche und einen Erfahrungsaustausch zur Verfügung und freut sich auch über Ihre Kontaktaufnahme (via Geschäftsstelle der Regionalvereinigung).

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