«Ich konnte gerade noch meinen Mann anrufen, bevor ich ohnmächtig wurde», erinnert sie sich. Kurz darauf traf die Ambulanz ein und ihre Tochter Délya wurde einer Nachbarin anvertraut. Die Zweijährige weinte und sagte immer wieder: «Mama, Bobo am Kopf!»
«Ich wurde erst ins Spital von Riaz oder Freiburg gebracht und dann mit dem Helikopter ins HUG nach Genf», erzählt Cindy Engelmann. Eine arteriovenöse Malformation (AVM)1 war aufgerissen und hatte eine massive Hirnblutung verursacht. Nach einer neunstündigen Operation wurde Cindy eine Woche in ein künstliches Koma versetzt. Als sie aus der Narkose erwachte, konnte sie sich weder bewegen noch sprechen und hatte Mühe zu verstehen, was mit ihr geschah. Ein Jahr später, nach Monaten der Rehabilitation, als sie bereits wieder zu Hause war, erlitt Cindy bei der geplanten Operation zur Entfernung der AVM eine zweite Hirnblutung. So verbrachte sie weitere sechs Monate im Spital.
«Emotionen spüren und in Worte fassen ist schwierig»
Seit ihrem Schlaganfall leidet Cindy unter den teils schwerwiegenden Folgen. Beispielsweise nimmt sie ihre linke Körperhälfte nicht mehr wahr, kann ihre beiden Arme nicht gleichzeitig benutzen und nicht mehr mit beiden Ohren gleichzeitig hören. Zudem hat sie eine linksseitige Hemianopsie: Sie sieht links nichts, isst nur die Hälfte ihres Tellers und denkt, sie habe alles gegessen. Von der linksseitigen Hemiplegie hat sie sich abgesehen von Problemen mit der Handmotorik gut erholt. Sie hat aber kein Gefühl mehr für Distanzen und Geschwindigkeit und die räumliche Orientierung, das visuelle Gedächtnis, Planung und Organisation sind beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass sie keine positiven Emotionen mehr spürt, ausser sie sind sehr stark. Sie fühlt sich wie ein Roboter und leidet seit neun Jahren an Depressionen. «Das ist das Schlimmste», sagt sie. Sie verspürt weder Hunger noch Durst und beim Essen muss sie sich darauf konzentrieren, sitzen zu bleiben, Löffel und Gabel vom Teller zum Mund zu führen, richtig zu kauen und zu schlucken. Die junge Frau merkt sich alles durch Wiederholung und braucht eine ständige Routine. Ankleiden ist ein Effort und sie ermüdet schnell. Cindy, die früher ein gutes Personengedächtnis hatte, erkennt Gesichter nicht mehr – auch das ihrer Tochter nicht, die schnell wächst und sich stark verändert.
Eine enge Familie, eine charakterstarke Tochter und ein Buch
Im Spital und nach der Rückkehr nach Hause wurde Cindy von ihren Angehörigen eng begleitet. Sie motivierten die junge Frau, über sich hinauszuwachsen. Aber es fällt Cindys Umfeld schwer, ihre Ermüdbarkeit zu begreifen, und so hat sich eine gewisse Distanz aufgebaut. «Für sie bin ich halb blind und müde und meine Hand funktioniert nicht richtig. Sie sehen aber die unsichtbaren Folgeschäden nicht», erklärt sie. Délyas Vater hat sie nach ihrem Schlaganfall sehr unterstützt und Cindys Beziehung zu Délya ist eng. Nach ihrer Rückkehr nach Hause brachte Cindy ihrer Tochter Selbstständigkeit bei, weil sie sie nicht mehr duschen oder anziehen konnte. Die heute 12-Jährige ist sehr reif und hat einen starken Charakter. Sie sagt Cindy oft, sie möchte «eine normale Mutter» haben. «Das zu hören ist schwer!», gesteht diese.
Nach ihrem Schlaganfall begann Cindy auf Anraten ihrer Psychologin, ihre Erfahrungen aufzuschreiben, auch um besser zu schlafen. Schlafen ist zwar immer noch schwierig, aber der Wunsch, ihre Geschichte zu erzählen, ist ungebrochen: «Wenn ich nur einer Person helfen kann, ist das gut. Und ich mache das nicht zuletzt, damit meine Familie mich besser versteht.» Ihr Buch «Renaissance» erschien im Juni 2022 im Verlag Saint-Augustin. Cindy schreibt auch für ihre Tochter: «Ich möchte, dass sie mein Buch eines Tages liest und besser begreift, wie schwer das Leben für mich ist. Dank Délya habe ich gekämpft und durchgehalten. Ich will sie nicht verlieren. Es fällt mir schwer zu spüren, dass ich sie liebe. Aber ich vermisse sie, wenn sie nicht da ist, und ich liebe sie. Dass ich hier bin, verdanke ich ihr.»
FRAGILE Vaud hilft, die Bindung zu ihrer Tochter zu stärken
Cindy lernte FRAGILE Vaud bereits im Spital kennen. Hin und wieder nimmt sie an den Treffen der Gesprächsgruppe für Betroffene teil, aber die Distanz zu ihrem Wohnort ist zu gross. Dafür nimmt sie mit Délya an den von der Regionalvereinigung organisierten Aktivitäten teil. «Im September besuchten wir den Zirkus Knie. Ohne FRAGILE Vaud hätte ich mit meiner Tochter nie dorthin gehen können», sagt sie strahlend. Toll war auch die Ausfahrt mit einem Fonduewagen in Gruyères: «Meine Tochter konnte die Pferde streicheln und ich – dank FRAGILE Vaud – für eine kurze Zeit eine perfekte Mutter sein.»
Zum Porträt gibt es auch ein Video.