Für Marguerite hat ihr zweiter Geburtstag eine grosse Bedeutung: «Ich denke an diesem Tag jeweils an die Personen, die mir das Leben gerettet haben, und sage danke. Ab und zu schreibe ich ihnen auch Briefe.» Ihre Lebensretter, das sind ein Akupunkteur sowie der Chefarzt auf der Intensivstation des Kantonsspitals Aarau. Marguerite sass im Wartezimmer ihres Akupunkteurs, als ihr Herz plötzlich zu schlagen aufhörte. Der Akupunkteur reanimierte sie sofort und alarmierte den Rettungsdienst. Auf der Intensivstation des Kantonsspitals Aarau musste sie noch zwei weitere Male reanimiert werden.
Marguerite lag etwa einen Monat lang im Koma. Der Herzstillstand verursachte einen Sauerstoffmangel im Gehirn und folglich eine schwere Hirnverletzung. Sämtliche Erinnerungen an ihr erstes Leben hat sie verloren. Marguerite musste während der achtmonatigen stationären Rehabilitation alles wieder neu lernen. «Das war eine sehr anstrengende und extrem schwierige Zeit», berichtet sie. Aber sie habe keine andere Wahl gehabt, als einfach weiterzumachen und zu kämpfen. Ihr Mann, ihr Sohn und ihre Eltern seien eine riesige Unterstützung gewesen.
«Manchmal kommen auch schmerzhafte Gefühle hoch», bestätigt Marguerite ihre Trauer um verloren gegangene Erinnerungen. Wie schafft sie es, den Fokus trotzdem immer wieder aufs Positive zu richten? «Ich lese Nachrichten, die ich von meiner Familie und Freunden erhalten habe, schaue Bilder von meinem Sohn oder seine Zeichnungen an oder höre Musik.» An ihrem zweiten Geburtstag überwiege jedoch die Dankbarkeit: «Mein zweites Leben ist ein Geschenk für mich. Es ist eine zweite Chance, die ich erhalten habe.» Dass es ihr meistens gelingt, sich auf das Positive zu fokussieren, betrachtet sie auch als Geschenk.
Marguerite hat sich entschieden, an ihrem zweiten Geburtstag nicht zu weinen, sondern zu feiern, das sei schliesslich die viel bessere Option. «Es ist zum Ritual geworden, dass ich mich an meinem zweiten Geburtstag oder in derselben Woche mit einer Gruppe von Freund:innen treffe.» Diese lernte Marguerite an der ETH Zürich kennen, als sie ihre Doktorarbeit in Agrarwissenschaften schrieb. Ihre Freund:innen seien ihr immer treu geblieben und sie freue sich jeweils sehr, etwas mit ihnen zu unternehmen.
Weiterhin feiert Marguerite auch ihren «offiziellen» Geburtstag, meistens zusammen mit ihrer Familie. Sie bekomme an diesem Tag sowie auch an ihrem zweiten Geburtstag viele Nachrichten. Handgeschriebene Briefe und Postkarten mag sie besonders, da sie diese in der Hand halten kann. Auch WhatsApp Nachrichten freuen Marguerite – sie liest sie immer wieder, wenn sie Aufmunterung braucht.
Mit dem Wort «Neuanfang» assoziiert Marguerite den Herzstillstand und die daraus resultierende Hirnverletzung, aber auch die zweite Chance und das Suchen und Finden ihres neuen Weges. Der Neuanfang sei nicht einfach gewesen. «Nach der stationären Rehabilitation wusste ich noch nicht, wie mein neuer Lebensweg aussehen könnte», erinnert sich Marguerite. Dieser habe sich erst mit der Zeit gezeigt. Da Musik Marguerite gutgetan hat, empfahl ihr die Musiktherapeutin, in einem Chor zu singen. Abends zu proben, kommt für Marguerite nicht in Frage, da sie dann Zeit mit ihrem Mann und ihrem Sohn verbringen möchte. Deshalb entschied sie sich trotz ihres jüngeren Alters für einen Seniorenchor, der tagsüber probt. Die anfänglichen Bedenken verflogen rasch. «Ich fühle mich wohl unter älteren Menschen, wir haben viele Gemeinsamkeiten», erzählt Marguerite. Was sie verbinde, seien Themen wie Müdigkeit, Gedächtnisprobleme, Langsamkeit sowie Struktur- und Unterstützungsbedarf (z.B. für Informatik und Administration).
Marguerite hat gespürt, wie schwer und traurig es sein kann, sich einsam zu fühlen. Sie selbst habe diese Einsamkeitsgefühle glücklicherweise nicht. Es liege ihr am Herzen, älteren Menschen Zeit zu schenken, damit sie sich weniger einsam fühlen. Im Chor habe sie gemerkt, wie sehr sie Seniorinnen und Senioren schätzt. Eine Seniorin lud sie ein, regelmässig zusammen einzukaufen und zu kochen, was beiden grossen Spass machte. So kam Marguerite schliesslich auf die Idee, beim Schweizerischen Roten Kreuz und bei Pro Senectute Freiwilligenarbeit für ältere Menschen zu leisten. Aktuell ist sie in sieben Vereinen / Zentren tätig und ist Mitglied der Regionalvereinigung von FRAGILE Aargau.
Marguerite hat ihren neuen Weg gefunden. Sie meint, ohne Unterstützung von anderen Personen wäre dies nicht möglich gewesen. Nebst ihrer Familie und Freunden erhielt sie Hilfe durch therapeutisches Fachpersonal und durch die Angebote von FRAGILE. Was rät Marguerite anderen Betroffenen? «Es ist wichtig, nach Hilfe zu fragen und sich zu erlauben, diese Hilfe auch anzunehmen.»