Peter F. ist verheiratet und Vater einer mittlerweile 15-jährigen Tochter. Vor bald 10 Jahren änderte sich sein Leben radikal – seine Frau hatte im Dezember 2014 ein akutes Leberversagen und musste ums Überleben kämpfen. Im Januar 2015 folgte ein Darmdurchbruch, der eine schwere Sepsis verursachte. Dass sie auch an einer Hirnverletzung leidet, wurde erst 2021 herausgefunden, als aufgrund ihrer Symptome (z.B. anhaltende Gedächtnisprobleme und schnelle Ermüdbarkeit) eine neurologische Abklärung durchgeführt wurde.
«Seither gibt es endlich eine klare Linie in der Behandlung meiner Frau.» Peter berichtet, wie er als Angehöriger gelernt hat, mit der Erkrankung seiner Frau umzugehen und was ihm auf diesem langen und steinigen Weg geholfen hat.
Peter ist immer für seine Frau da
Als Peters Frau Nisha auf der Intensivstation lag, hatte er grosse Angst. Viele Fragen gingen ihm durch den Kopf: «Wird meine Frau überleben? Wenn sie überlebt, wird sie schwer behindert sein? Wie geht unser Leben weiter?» Auch Existenzängste plagten ihn. Peter erzählt, dass Tochter Melina, damals erst 5-jährig, ebenfalls mit grosser Angst reagiert habe. Sie habe viel geweint und immer wieder gesagt: «Ich will zu Mami!»
Melina besuchte ihre Mutter häufig auf der Intensivstation und unterstützte sie auf ihre Art, machte ihr zum Beispiel mit einer Zeichnung eine Freude. Ein Arzt habe sich schliesslich dafür eingesetzt, dass Nisha nachhause gehen und dort weiter genesen konnte. Obwohl sie damals in einem desolaten Zustand war, schien das für die Familie die beste Lösung zu sein, vor allem auch für Melina. Für Peter war von Anfang an klar, dass er seine Frau unterstützt, so gut er kann. Er kümmerte sich fast rund um die Uhr um sie und übernahm auch pflegerische Aufgaben.
Zeit für sich selbst hatte er kaum – er fühlte sich für alles verantwortlich. Freitags war seine Tochter zwar für eine Stunde in einer Puppentherapie, aber in dieser Zeit konnte Peter nicht wirklich abschalten. Er meint dazu: «Diese Stunde reichte gerade mal, um von Level 1000 auf 999 zu kommen.»
Woraus schöpfte er seine Kraft, um all die anstehenden Herausforderungen anzupacken? «Ich denke, es ist vor allem die Liebe zur Familie, die mir Kraft gab und nach wie vor gibt.» Peter wurde zum Anker für seine Familie. Die grosse Belastung ging nicht spurlos an ihm vorbei. Auch er hatte mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.
Daraus hat er viel gelernt – heute gelingt es ihm besser, seine Kräfte einzuteilen. Nisha braucht inzwischen weniger Unterstützung als früher, dennoch macht Peter nach wie vor viel im Haushalt und geht mit ihr einkaufen. «Wichtig ist auch die emotionale Unterstützung», findet er. «Ich bin für meine Frau da, spreche offen mit ihr und versuche, sie zu verstehen.» Melina sei mittlerweile eine reife Teenagerin geworden, die gerne Zeit mit ihrer Familie verbringe und häufig koche. Sie dürfe aber auch einfach ein Teenie sein. «Melina ist nie gezwungen worden, zu helfen», betont Peter.
Was wirklich geholfen hätte
Peter erzählt, wie krass er den Kontrast vom Spital- ins Alltagsleben empfunden hat. «So ein Angebot wie LOTSE, das es heute gibt, habe ich vermisst.» Die Sozialarbeiterin im Spital habe keine Empathie gezeigt und einen Termin bei der Seelsorge hätten sie nicht erhalten. Peter wäre froh gewesen, wenn jemand auf ihn zugekommen wäre und ihm erklärt hätte, welche Unterstützungsangebote es gibt. Er musste sich um alles selbst kümmern.
Als seine Frau Nisha wieder zuhause war, übernahm Peters Mutter vieles im Haushalt und die Spitex kam regelmässig vorbei. Ausserdem erhält Nisha bis heute Physio- und Ergotherapie. Peter schätzte Melinas Kindergärtnerin sehr, sie sei eine grosse Hilfe gewesen: «Sie hat die Situation verstanden und die Familie immer unterstützt. Im Gegensatz zu vielen anderen, die kaum begriffen haben, in welcher Lage wir waren.»
Die Familie erhielt zwar gut gemeinte Ratschläge von Freunden und Bekannten, die Peter jedoch nicht als hilfreich empfand. Er erklärt sich das so: «Die meisten waren wohl selbst überfordert und traumatisiert durch die schlimmen Ereignisse.» Die Frage «Was brauchst du?» habe ihm gefehlt. Von seinem Freundeskreis hätte er sich mehr Verständnis und Raum für seine Gefühle gewünscht. «Für viele gelten Männer immer noch als schwach, wenn sie Gefühle zeigen», stellt Peter fest. «Schlimm ist auch, dass der Tod und schwere Erkrankungen nach wie vor Tabuthemen sind.»
Viele Freundschaften seien auseinandergegangen – ihre Welten hätten sich zu sehr voneinander getrennt. Mittlerweile haben Peter und seine Frau neue Freundschaften geschlossen. Man suche sich andere Leute, die das Leben etwas entspannter sehen und ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Peter spricht auch über die lange fehlende finanzielle Unterstützung für seine Frau: «Wir mussten sechs Jahre lang für eine IV-Rente kämpfen.»
Unterstützung durch FRAGILE Suisse und die Regionalvereinigung
Auf FRAGILE Suisse ist Peter erst vor zwei Jahren gestossen, als er im Internet zum Thema «Hirnverletzung» recherchierte. Via Helpline lernte er Bea Bossert kennen. Sie habe sich viel Zeit genommen und ihnen eine Wohnbegleiterin vermittelt, die auch heute noch zu ihnen nachhause kommt. Das war eine grosse Erleichterung für Peter:
«Zum ersten Mal konnte ich einen Teil der Verantwortung abgeben. Jetzt bin ich vor allem wieder Vater und Ehemann.» Bea Bossert informierte ihn über die Regionalvereinigung FRAGILE Aargau / Solothurn Ost. Peter wurde Mitglied und besucht regelmässig die Selbsthilfegruppe für Angehörige und auch die Gruppe für Betroffene und Angehörige. Er schätzt den Austausch sehr und fühlt sich verstanden. «Es ist schön, dass auch gelacht werden darf», findet Peter.
Gründung einer eigenen Selbsthilfegruppe
Mitte Mai 2024 gründeten Peter und Nisha eine Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige bei schweren Erkrankungen. «Durch unsere eigenen Erfahrungen haben wir viel gelernt, das wir weitergeben möchten», erklärt Peter. Es sei ihnen ein grosses Anliegen, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen, sowohl emotional als auch mittels gezielter Informationen.
Peter kann dabei aus dem Vollen schöpfen: Er ist nicht nur Experte aus Erfahrung, sondern verfügt auch über eine Ausbildung als Erwachsenenbildner und ressourcenorientierter Coach. Für seine Frau Nisha sei die Selbsthilfegruppe ebenfalls sehr wichtig, denn sie könne dadurch als Expertin für ihre Erkrankung einen wertvollen Beitrag an die Gesellschaft leisten.
Paar- und Mutter-Tochter-Beziehung
Peters Rolle in der Familie hat sich verändert: In den ersten Jahren nach Erkrankungsbeginn seiner Frau nahm er sich vor allem als Pfleger wahr, inzwischen sieht er sich wieder mehr als Familienmann. Sie seien ein grosses Team (Ärzte, Physio- und Ergotherapeuten, Wohnbegleitung), das zusammenarbeite.
Trotz des steinigen Weges pflegt Peter ein sehr gutes Verhältnis zu seiner Frau: «Die Erfahrung hat uns sogar noch mehr zusammengeschweisst.» Sie seien einander näher, würden sich gegenseitig besser verstehen und das Wesen des anderen mit all seinen Stärken und Schwächen akzeptieren.
Auf die Frage, ob es etwas gibt, dass er in der Partnerschaft vermisst, antwortet Peter deutlich: «Nein, das gibt es nicht!» Die geteilten Erfahrungen hätten sie weiser gemacht und sie könnten nun das Leben mehr geniessen. Peter erzählt von gemeinsamen Spaziergängen und Spielen mit der Familie. Manchmal würden sie auch Ausflüge machen, Nisha brauche jedoch vorher und nachher viel Erholungszeit. Sie lasse ihm seine Freiheiten, um z.B. auch mal mit der Tochter alleine Ferien zu machen.
Melinas Beziehung zur Mutter habe sich ebenfalls verändert, erinnert sich Peter. Zu Beginn ihrer Erkrankung sei es oft schwierig gewesen für die beiden, da Nisha nicht viel vertragen habe und schnell erschöpft gewesen sei. «Sie mussten sich wieder annähern. Das brauchte Arbeit, Zeit und Geduld.» Heute sei die Mutter-Tochter-Beziehung tiefer und Melina verbringe sehr gerne Zeit mit der Familie.
Was Peter anderen Angehörigen mitgeben möchte
«Selbstfürsorge ist für Angehörige sehr wichtig.» Das weiss Peter aus eigener Erfahrung – bei ihm kam sie oft zu kurz. Es sei nötig, den eigenen Kräftetank immer wieder aufzufüllen und sich ohne schlechtes Gewissen etwas zu gönnen. Es brauche auch ein Bewusstsein dafür, dass man sich auf einen langen und steinigen Weg machen müsse. Dabei sei es zentral, daran zu glauben, dass auch wieder bessere Zeiten kommen.
Peter würde unbedingt die Selbsthilfegruppen nutzen: «Hier kann man sich selbst sein und Kraft tanken. Und man wird verstanden.» Man lerne auch, mit verletzenden Bemerkungen von Aussenstehenden umzugehen und es könnten sogar Probleme gelöst werden.
Auch wenn es nicht immer einfach sei, soll man den Humor nicht verlieren. Peter ist überzeugt, dass es hilft, über sich selbst lachen zu können.
Und was für Peter sonst noch von grosser Bedeutung ist und er anderen weitergeben möchte: Hilfe annehmen zu können. «Hilfe anzunehmen ist keine Schwäche, sondern eine Stärke.»