Präsidentin des Gemeindevereins, Guggenmusikerin, Hausfrau und Mutter: Für Heidy Grätzer gab es selten einen Moment der Untätigkeit. Bis zu dem Tag, der alles veränderte. Mit gerade einmal 36 Jahren erleidet sie einen Schlaganfall. Heute, 25 Jahre später, blickt sie auf ihren Wiedereinstieg in die Arbeitswelt zurück und erzählt im Interview, weshalb eine positive Einstellung so wichtig ist.
Heidy, hattest du nach deinem Schlaganfall schnell das Bedürfnis, wieder ins Arbeitsleben zurückzukehren?
Auf jeden Fall! Ich war schon immer ein sehr aktiver Mensch, bringe mich gerne ein und liebe es, Dinge zu organisieren. Das ging auch nach meiner Hirnverletzung nicht einfach verloren. Deshalb wollte ich ziemlich schnell wieder zurück ins Arbeitsleben – und noch schneller am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Ist dir das gelungen?
Besonders mein Umfeld hat mich in dieser Zeit sehr unterstützt. Ich war gerade einmal 36 Jahre alt, als ich den Schlaganfall erlitt und hatte einen grossen Freundeskreis. Mit meinen Freundinnen und Freunden konnte ich über all meine Sorgen sprechen. Sie haben mir die Zeit gegeben, die ich brauchte. So habe ich schnell wieder Anschluss gefunden.
Gab es auch negative Reaktionen?
Es gab Leute, die mich überschätzt haben und dachten, ich könnte einfach wieder dort einsteigen, wo ich aufgehört habe. Für sie war es schwierig zu verstehen, weil man mir äusserlich nichts von der Hirnverletzung ansehen konnte. Einige runzelten sogar die Stirn, wenn ich gesprochen habe. Das hat mich jeweils sehr verunsichert.
Nun bist du schon seit einigen Jahren bei FRAGILE Suisse tätig und unterstützt das Team Finanzen und Administration. Wie verlief die Arbeitssuche damals für dich?
Zum Glück fiel es mir relativ einfach, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Ich habe mich auf ein Inserat im Magazin von FRAGILE Suisse gemeldet und wurde aus 12 Bewerberinnen und Bewerbern ausgewählt.
Was rätst du anderen Betroffenen, die wieder arbeiten möchten?
Ich persönlich musste vor allem meine Selbstzweifel überwinden. Die Arbeit hat mir jedoch mein Selbstwertgefühl zurückgegeben, das ich durch den Schlaganfall verloren hatte. Deshalb empfehle ich auch allen Betroffenen, die Hoffnung nicht aufzugeben und die positive Einstellung zu bewahren.
Für dich war es am Anfang also schwer, dich mit der neuen Situation in der Arbeitswelt zurechtzufinden?
Gerade zu Beginn wollte ich unbedingt, dass alles so ist wie vor meinem Schlaganfall. Ich war wütend auf mich selbst, weil nicht alles auf Anhieb funktioniert hat. Vieles musste ich in der Reha erst wieder lernen. Da habe ich verstanden, dass es einfach Zeit braucht und ich mir selbst keinen Druck machen darf.
Und heute?
Es ist 25 Jahre her, seit ich den Schlaganfall hatte. Ich kann mich noch immer nicht lange konzentrieren und bin in einigen Dingen vielleicht etwas langsamer als andere. Bei FRAGILE Suisse fühle ich mich jedoch verstanden. Meine Arbeit gibt mir Struktur im Alltag und ich fühle mich gebraucht.
Wie können Arbeitgeber Betroffene bei der Wiedereingliederung unterstützen?
Das Wichtigste ist, dass sie Respekt, Geduld und Vertrauen haben. Zudem sollen Arbeitgeber die Betroffenen immer wieder ermutigen, denn nicht alles klappt beim ersten Mal. Meiner Meinung nach bräuchte es generell mehr Organisationen und Unternehmen, die Menschen mit einer Hirnverletzung einstellen und ihnen so bei der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben helfen.
Nebst der Arbeit darf natürlich die Freizeitbeschäftigung nicht zu kurz kommen. Was ist dein liebstes Hobby?
Genauso wichtig wie die Arbeit ist auch die Gestaltung der Freizeit. Denn auch diese gibt eine gewisse Struktur. Ich zum Beispiel treffe gerne meine Freunde zu einem Tee oder Kaffee, fotografiere, fahre Vespa in der Natur oder unternehme eine Städtereise. Wobei einiges hiervon wegen des Coronavirus zurzeit leider nicht möglich ist.
Stichwort Coronavirus: Wie hat dich das beeinflusst?
Durch die aktuelle Situation bin ich zwar häufig allein, aber nicht einsam. Das verdanke ich nicht zuletzt der modernen Technologie, die es möglich macht, mich trotzdem mit den Leuten in meinem Team auszutauschen. Dennoch vermisse ich den persönlichen Kontakt, sei es beruflich oder privat. Ich versuche jedoch, die Situation positiv zu sehen. So habe ich zum Beispiel meinen Dachboden aufgeräumt sowie die Zimmer entrümpelt und bin oft spazieren gegangen.
Text: Timea Hunkeler