Interview: Megan Baiutti
Wie beschreiben Menschen, die von einer Hirnverletzung betroffen sind, ihre Situation?
Betroffene erzählen mir oft, dass es bei einer Hirnverletzung ein «Vorher» und ein «Nachher» gibt. Für sie ist es wichtig, ihre Erfahrungen und Gefühle mitteilen zu können, auch wenn ihnen das schwerfällt. Sie wollen darüber sprechen und diesen Einschnitt in ihrem Leben in Worte fassen.
Inwiefern ist eine Hirnverletzung ein Wendepunkt im Leben eines betroffenen Menschen?
Menschen mit einer Hirnverletzung leiden oft unter enormer Müdigkeit und müssen ihren Alltag anpassen. Zudem sind sie auch auf körperlicher und emotionaler Ebene mit Veränderungen konfrontiert. Einige von ihnen sind nicht in der Lage, ihre Arbeit wieder aufzunehmen oder alltägliche Aufgaben zu erledigen. Sie leben nach einem anderen Rhythmus als vorher. Eine Klientin erzählte mir, sie musste «das Leben neu lernen», die Hirnverletzung sei ein Einschnitt in ihrem Leben und dem ihrer erwachsenen Kinder gewesen. Denn auch sie mussten sich an eine neue Dynamik gewöhnen.
Das Begleitete Wohnen von FRAGILE Suisse setzt genau hier an: Dieses Angebot unterstützt Menschen, die in ihren eigenen vier Wänden leben möchten. Meine Kolleginnen und ich besuchen sie zu Hause und helfen ihnen bei administrativen oder finanziellen Angelegenheiten oder bei der Organisation des Alltags. Wir begleiten sie auch bei Arztbesuchen, da diese komplex sein können. Ziel dabei ist die Hilfe zur Selbsthilfe.
Die Betroffenen sagen oft, dass sie zwei Geburtstage haben: Was genau bedeutet das?
Sie beziehen sich dabei auf ihr Gefühl, nach ihrem Unfall ein zweites Mal geboren worden zu sein – als hätten sie ein zweites Leben erhalten. Tatsächlich müssen sie lernen, mit den Folgen einer Hirnverletzung zu leben, etwa wieder sprechen oder gehen lernen. Unabhängig davon, wie schwer die Folgen sind: Es braucht immer eine gewisse Zeit der Anpassung.
Ein Klient, der in den 1990er Jahren ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte, erzählte mir, er habe über 30 Jahre gebraucht, um die Auswirkungen des Unfalls auf sein Leben tatsächlich zu begreifen. Jahrelang hatte er gehofft, wieder «wie früher» zu werden, aber es war ihm nie gelungen. Die Folgen dieses Traumas zu akzeptieren war ein langer Prozess für ihn. Erst vor kurzem konnte er erkennen, dass seine Hirnverletzung ein Neuanfang und Teil seines Lebens war.
Welchen Rat können Sie Menschen geben, die mit diesem Neuanfang in ihrem Leben konfrontiert sind?
Das Wichtigste ist, sich Zeit für die Erholung zu nehmen. Nach der Phase des Spitalaufenthalts tendieren die Menschen dazu, so rasch wie möglich in ihr «altes Leben» zurückkehren zu wollen. Dabei sollten sie sich Zeit nehmen, um sich bewusst zu werden, was ihnen passiert ist und was das für ihr neues Leben bedeutet. Das heisst auch, dass man nicht zögern sollte, sich Unterstützung zu holen. Egal, ob es sich um Angehörige oder Fachpersonen handelt: Betroffene müssen begleitet und bestärkt werden. Um Hilfe zu bitten, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck des Willens, sich für eine Verbesserung einzusetzen. Auch wenn es Jahre dauern kann, sagen viele Betroffene im Nachhinein, dass ein solcher Neuanfang auch etwas Gutes haben kann, dass sie beispielsweise bewusster durchs Leben gehen und sich an kleinen Dingen erfreuen.
Infobox
FRAGILE Suisse hat auch einen Neuanfang gewagt und das Angebot «Begleitetes Wohnen» in Genf eingeführt. Informieren Sie Ihr Umfeld und kontaktieren Sie Nicolette van den Bos unter 021 329 02 76 oder per E-Mail an vandenBos@ fragile.ch