Nach einer Hirnverletzung können Betroffene ihr Leben nicht einfach wieder aufnehmen. Warum ist das so?
Eine Hirnverletzung ist ein kritisches Lebensereignis, das bewältigt werden muss, um die eigene Identität innerhalb der Grenzen der zerebralen Schädigung wiederzuerlangen. Menschen mit einer Hirnverletzung müssen ihr Leben zurückgewinnen. FRAGILE Suisse kommt bei der Unterstützung der Betroffenen auf diesem Weg eine wichtige Rolle zu. Ich finde es entscheidend, einen Ansatz zu verfolgen, der auf die individuellen Bedürfnisse der Person und deren Umfeld ausgerichtet ist. Ziel ist es, den Betroffenen zu helfen, nach ihren Vorstellungen und Werten zu leben, Beziehungen zu führen, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen, Entscheidungen zu treffen und eine erfüllte Identität zu haben.
Vor welchen Herausforderungen stehen Menschen mit einer Hirnverletzung in Bezug auf das Zeitmanagement?
Eine Hirnverletzung beeinträchtigt den Fluss des Alltags: Betroffene haben Schwierigkeiten, Automatismen zurückzuerlangen. Die Schädigung kann die Motorik oder die Sprache beeinträchtigen. Sie kann auch zu Schwierigkeiten beim Auslösen einer Handlung führen, da die betroffene Person nicht mehr automatisch auf ein Handlungsmuster* zurückgreifen kann. Jede Handlung muss jedes Mal neu programmiert werden. Viele Tätigkeiten, die früher automatisch ausgeführt wurden, erfordern nun eine grössere kognitive Anstrengung und führen zu einer grossen Ermüdung. Es besteht die Gefahr eines emotionalen Zusammenbruchs. Diese Situation ist psychologisch sehr heftig und löst Stress aus.
Wie können Angehörige helfen?
Obwohl die Angehörigen und das Umfeld Teil dieser Wiederaneignung sind, kommt es immer wieder zu Verständnisproblemen. In der Gesprächsgruppe für Menschen mit einer Hirnverletzung hören wir oft: «Ich weiss nicht, wie ich es ihnen begreiflich machen kann!» Die Fachkräfte müssen den Familien und nahestehenden Personen erklären, welche sozio-emotionalen oder verhaltensbezogenen Veränderungen auf sie zukommen werden. Es liegt nicht an Unwillen oder Faulheit. Wir müssen die Angehörigen ganz konkret und vor Ort anleiten.
Was können wir von Menschen mit einer Hirnverletzung lernen?
Menschen mit einer Hirnverletzung bewegen uns dazu, das Wesentliche im Leben zu sehen. Wir müssen uns um uns selbst und um die Menschen kümmern, die wir lieben. Das Eingehen von Beziehungen gehört zu den grundlegenden Elementen der menschlichen Existenz. In der Beziehung zwischen einer Person mit einer Hirnverletzung und einem ihr nahestehenden Menschen geht es um den Kern dessen, was den zwischenmenschlichen Austausch sinnvoll macht, nicht um ein hektisches und konsumorientiertes Wettrennen. Wenn eine Beziehung gut läuft, entsteht eine Art transzendentaler Raum, in dem wir diese schwierigen und zugleich besonderen Momente des täglichen Lebens in etwas Wertvolles verwandeln können.