Dorothee Rübel, welches sind die typischen Verarbeitungsphasen, die eine Person nach einer Hirnverletzung durchläuft?
Wir unterscheiden grundsätzlich vier Phasen: Die erste Phase ist der Schock und die Überforderung direkt nach der Hirnverletzung. Danach geraten viele Betroffene in eine Phase des Aktionismus und des Gefühlschaos. In der dritten Phase zeigen sich Ermüdung, Trauer und Schwäche. Danach kommt die vierte Phase, die Anpassung an die Realität. Erst hier ist ein Neuanfang möglich.
In welcher Phase akzeptiert man die neue Situation, das neue Leben nach der Hirnverletzung?
Das Akzeptieren gelingt meist in der dritten Phase, wenn man nicht mehr aktiv versucht, alles wieder wie vorher zu haben. Man merkt und akzeptiert, dass es nicht mehr so sein wird wie früher.
Erleben die Betroffenen und Angehörigen die Phasen immer in dieser Reihenfolge?
Es ist wichtig, dass man diese verschiedenen Phasen durchläuft. Dies geschieht jedoch nicht immer geradlinig und kann viele Jahre dauern. Durch Vorfälle wie z.B. berufliche Rückschläge, unerwartete Hürden oder finanzielle Schwierigkeiten können Personen wieder in eine frühere Phase zurückfallen. Es gibt auch Menschen, die immer wieder zurückfallen oder in einer Phase stecken bleiben. Für sie ist es schwierig, ja manchmal unmöglich, in einen guten Neuanfang zu kommen.
Ist der Prozess der Verarbeitung bei den Betroffenen und den Angehörigen derselbe?
Es kommt vor, dass die Angehörigen in der Verarbeitung einen Schritt hinterherhinken, weil sie sich länger an die Hoffnung klammern, dass es wieder wird wie früher. Auch sie gehen oft durch die Phase des Aktionismus und spornen die Betroffenen an, sich noch mehr anzustrengen. Oft realisieren sie nicht, dass die Betroffenen in der Rehabilitation viele Pausen und Ruhe brauchen und nicht mehr so belastbar sind. Auch haben sie hohe Erwartungen an sich selbst, was auf Dauer nicht aushaltbar ist. Nach dem Aktionismus folgt auch bei den Angehörigen die Erschöpfung. Hier ist es wichtig, dass sie Unterstützung bekommen und sich auch mal wieder Zeit für sich selber nehmen. Das geht leider oft vergessen.
Wie wichtig ist es für die Betroffenen, in der Phase der Ermüdung und Trauer begleitet und unterstützt zu werden?
Der Prozess nach einer Hirnverletzung ist sehr schmerzhaft. Sehr vieles ist verloren gegangen und man muss lernen, mit dem Verlust klarzukommen. Darum ist es entscheidend, dass man trauern kann. Eine Fachperson hilft, den Aktivismus zu bremsen, sich Zeit zu nehmen und mit sich selber wieder in Kontakt zu kommen. Wenn man immer aktiv ist und am früheren Leben hängt, hat man fast keine Chance, mit dem Gefühlschaos klarzukommen.
Nach einer engen Begleitung in der Rehabilitation fühlen sich manche Betroffene zu Hause plötzlich einsam und verloren. Der geschützte Rahmen und das Programm fallen zunehmend weg. Betroffene gehen vielleicht noch 1-2 Mal pro Woche in die Therapie, doch sind damit konfrontiert, dass vieles nicht mehr geht und dass das Leben nicht mehr so sein wird wie vorher. In dieser Phase besteht die Gefahr einer reaktiven Depression. Die professionelle Begleitung ist enorm wichtig. FRAGILE Suisse bietet mit LOTSE ein Angebot, das hier die Lücke von der stationären zur ambulanten Begleitung schliesst und die Betroffenen im richtigen Moment abholt.
Was geschieht in der vierten Phase, in der Anpassung an die Realität?
Hier geht es darum, neue Rollen zu finden, innerhalb der Familie, der Partnerschaft und dem sozialen Umfeld. Möglicherweise kann man seine früheren Rollen nicht mehr wahrnehmen, Partnerschaften werden auf die Probe gestellt, Beziehungsmuster ändern sich. Eine Begleitung durch Fachpersonen kann hier hilfreich sein und auch Angehörige dabei unterstützen, eigene Interessen, Pläne und neue Ziele zu entwickeln.
Betroffene entdecken in dieser Phase neue Aufgaben, Perspektiven und Interessen. Sie finden neue Hobbys, ein neues Wohlbefinden. Es kann sein, dass sie sagen: Ich kann nicht mehr an einem Gespräch teilnehmen, aber ich kann ein schönes Bild malen.
Welche Faktoren helfen für einen gelungenen Neuanfang?
Für Betroffene sind Pausen und Ruhe wichtig, sowie der Austausch mit anderen Betroffen, sei es in Selbsthilfegruppen oder in der Peer-Beratung. Dies gilt ebenfalls für die Angehörigen, auch für sie ist ein Austausch untereinander hilfreich.
Wie bereits erwähnt besteht die Gefahr, dass Betroffene nach dem Wegfall der intensiven Rehabilitation zu Hause in ein Loch fallen. Das soziale Umfeld, ein angepasstes Therapieprogramm und ev. auch eine psychologische Begleitung sind deshalb sehr wichtig. Die Angehörigen haben einen sehr grossen Einfluss auf den Verlauf der Rehabilitation und sollen deshalb von den Fachpersonen auch direkt unterstützt werden.
Erwähnen möchte ich, dass nicht alle Betroffenen die Möglichkeit haben, zu trauern, ihre Situation zu reflektieren und sich ein neues, zufriedenes Leben aufzubauen, wie das oft und auch hier dargestellt wird. Manche Betroffene hadern mit ihrer Situation und schaffen es nicht, neue Chancen zu sehen und in den Neuanfang zu kommen.
Nach einer Hirnverletzung verändert sich das Leben der Betroffenen komplett. Wie verändern sich die Betroffenen selber?
Angehörige sagen manchmal, dass sich das Wesen ihrer Partnerin oder ihres Partners verändert habe und sie oder er ein anderer Mensch sei. Diese Feststellung kann für die Angehörigen wichtig sein, damit sie Zustimmung bekommen und sich von ihrem Umfeld verstanden fühlen. Für Betroffene kann eine solche Aussage jedoch schwierig sein. Auch Menschen, deren Alltag sich stark verändert hat, sagen, dass ihre Wünsche, Bedürfnisse und Eigenarten noch die gleichen sind und dass ihr Charakter, ihre Persönlichkeit und damit ihre Identität das wichtigste sei, was sie von früher in die Zukunft mitnehmen.