Am 7. Februar 2004 klingelte das Telefon von Josiane und Alexandre Parisod um vier Uhr morgens: Ihr Sohn Yann war in Guatemala Opfer eines bewaffneten Überfalls geworden. Er wurde von mehreren Kugeln getroffen und hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Die Eltern waren zutiefst schockiert und konnten kaum begreifen, was passiert war. «Es war ein Albtraum», erinnert sich Josiane Parisod. Der Vater reiste sofort nach Mittelamerika, um an der Seite seines Sohnes zu sein, und wachte während des Spitalaufenthalts über Yann, bevor dieser in die Schweiz zurückgebracht wurde.
Anpassung an eine neue Situation
Das Leben des Ehepaars Parisod wurde komplett auf den Kopf gestellt. Die neue Situation zu akzeptieren, war die erste grosse Hürde. Nach seiner Behandlung im Universitätsspital Lausanne zog Yann mit Mitte 30 erst wieder zu seinen Eltern, bevor er eine kleine Wohnung in der Nähe fand. Seine Familie unterstützte ihn weiterhin und er besuchte sie regelmässig. Yann, der früher auf eigenen Beinen stand, war nun wieder auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen. «Der Neurologe sagte uns, unser Sohn werde nie wieder derselbe sein. Und doch war es für uns schwer zu begreifen, was Yanns Verletzung für sein neues Leben bedeutet», so Josiane.
Für Familie Parisod brach eine Welt zusammen. Sie mussten sich mit ihrem Sohn und Bruder auseinandersetzen, der sich verändert und seine Selbstständigkeit verloren hatte. Hinzu kam ein starkes Gefühl der Ungerechtigkeit: «Als wir nach der Hirnverletzung den Geburtstag von Yann feierten, dachte ich an seine Geburt zurück. Ich hätte mir damals nie vorstellen können, dass ihm einmal eine solche Tragödie widerfahren würde.» Und sie ergänzt: «Ich habe mich immer als seine Mama gesehen, nicht als Angehörige einer Person mit einer Hirnverletzung.»
Josiane Parisod und ihr Mann mussten ihren Alltag den neuen Umständen anpassen. Die ersten lebhaften Familientreffen waren für Yann schwer zu bewältigen. Alle mussten sich erst zurechtfinden und Rücksicht auf die neue Situation nehmen. «Man merkt nicht unbedingt, dass jemand mit einem Schädel-Hirn-Trauma leidet, weil dieser Mensch nicht immer erklären kann, was ihn genau belastet», sagt sie.
Bei Yann sind unsichtbare Folgen geblieben. Josiane hat deshalb gelernt, Anzeichen von Müdigkeit bei ihrem Sohn zu erkennen und ihn zu schonen, auch wenn er selbst behauptet, absolut fit zu sein. «Ich versuche alles zu tun, damit Yann nicht in unkontrollierbare Situationen gerät. Für ihn ist es immer noch sehr schwer zu erklären, was er fühlt», sagt sie. Im Laufe der Jahre lernte sie alle Aufgaben einer Angehörigen kennen. Ohne Hilfe könnte sie diese Rolle nicht übernehmen: «Die Unterstützung des Umfelds ist entscheidend, weil die Situation auch für sie neu ist.»
Auch Angehörige brauchen Unterstützung
Josiane Parisod und ihre ganze Familie haben nach Yanns Hirnverletzung viel Unterstützung aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis erhalten. «Es war sehr wertvoll, Hilfe zu bekommen und auf offene Ohren zu stossen», erinnert sie sich. Ihr Umfeld reagierte sehr verständnisvoll auf die Veränderungen bei Yann. Ein Arzt und Freund der Familie hat ihnen geholfen, die Situation besser zu begreifen und zu verstehen, weshalb sich das Verhalten von Yann so verändert hat. Die Eltern werden auch von einer Neuropsychologin unterstützt, die Yann seit Jahren begleitet und ihnen hilft, seine Folgeschäden zu verstehen. Gemeinsam lernen sie, mit den unsichtbaren Folgen des Schädel-Hirn-Traumas zu leben. Aber trotz dieser Hilfsbereitschaft und des Verständnisses hat Yann mehrere Freunde verloren. Sie konnten nicht verstehen, dass Yann nicht mehr derselbe Mensch ist, verglichen ihn mit dem, der er «früher» war, und wunderten sich, wenn er anders reagierte und sich anders verhielt. Die Sorge um ihren Sohn ist seither zu einem ständigen Begleiter von Josiane Parisod geworden: «Das Wichtigste ist für mich, dass Yann von den Menschen verstanden wird, mit denen er zu tun hat.» Ihr Sohn lebt heute im Centre Rencontres in Courfaivre, das Menschen mit einer Hirnverletzung aufnimmt. Er wird täglich von Fachleuten begleitet, die seine Einschränkungen verstehen, sodass er sich weiterentwickeln und neue Aktivitäten entdecken kann.
Austausch in Selbsthilfegruppen
Der vertraute Rahmen der Selbsthilfegruppen hat Josiane Parisod geholfen, die Verhaltensweisen ihres Sohnes besser zu verstehen: «In diesen Gruppen kann ich mich mit anderen Menschen austauschen, die in einer ähnlichen Situation sind.» Sie hat gelernt, sich selbst als Angehörige einer Person mit Schädel-Hirn-Trauma zu betrachten, und sie und ihr Mann hatten den Wunsch, mehr über Hirnverletzungen und ihre Folgen zu erfahren. Manchmal erleben sie schwierige Situationen mit ihrem Sohn. Deshalb ist es für sie wichtig, sich in die Realität der Betroffenen einfühlen zu können. «Es ist unsere Aufgabe als Angehörige, die von einer Hirnverletzung betroffene Person zu verstehen, und nicht umgekehrt. Ich möchte den Betroffenen sagen, dass wir sie lieben und dass ihre Angehörigen trotz aller Schwierigkeiten ihr Bestes geben», beteuert Josiane.
Josiane engagiert sich seit Jahren im Vorstand von FRAGILE Vaud, weil sie Betroffenen und Angehörigen helfen möchte. Für sie ist es wichtig, andere zu treffen, die sich für Menschen mit Hirnverletzungen engagieren, und auf dieses Thema aufmerksam machen. Für sie steht fest: Jede Familie sollte in dieser komplexen Situation Unterstützung erhalten und man sollte nicht zögern, Hilfe einzufordern.
Text: Megan Baiutti