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«Die Rollen in einer Beziehung ändern sich»

Wie können sich Hirnverletzungen auf eine Partnerschaft auswirken und ist es für Menschen mit einer Hirnverletzung schwieriger, einen Partner zu finden?

Wie können sich Hirnverletzungen auf eine Partnerschaft auswirken und ist es für Menschen mit einer Hirnverletzung schwieriger, einen Partner zu finden?

Interview mit Klaus Vogelsänger, dipl. Sozialpädagoge, Kursleiter bei FRAGILE Suisse und Familien- und Paartherapeut

Klaus Vogelsänger, eine plötzliche Behinderung kann eine Beziehung stark beeinflussen. Denn nicht nur Betroffene selber müssen mit den neuen Lebensumständen klarkommen, auch für die Partner ist die Situation Neuland. Wie geht man damit um?

Da gibt es keine Patentlösung, keine klaren und generellen Wege und Regeln. Was wir in unseren Seminaren beobachten können, ist, dass die Vorgeschichte der Beziehung von grosser Bedeutung ist. Hat das Paar in Liebe und wertschätzendem Miteinander gelebt oder war es vor der Hirnverletzung des Partners eine eher schwierige und konfliktreiche Beziehung?

Ein Paar, das gelernt hat, in Liebe und gegenseitigen Respekt zusammenzuleben, hat natürlich auch nach der Erkrankung eines Partners weitaus grössere Chancen, mit der neuen herausfordernden Lebenswirklichkeit umzugehen. Im anderen Fall ist es für ein Paar sehr schwierig, nach Jahren von Streit und ungelösten Konflikten mit der veränderten Lebenswirklichkeit einen liebevollen gemeinsamen Weg zu finden. Grundsätzlich ist es für alle Paare eine sehr grosse Herausforderung und oft auch Überforderung.

Das alles allein zu bewältigen, ist schon fast ein Ding der Unmöglichkeit. Der Austausch mit anderen «betroffenen» Paaren zum Beispiel in Selbsthilfegruppen bei FRAGILE Suisse oder spezielle Angehörigengruppen sind hier meiner Meinung nach Gold wert. Hilfsangebote, welche die alltäglichen Lebensabläufe erleichtern, sowie psychotherapeutische Begleitung können auch förderlich und unterstützend sein.

Sexualität ist in einer Partnerschaft ein wichtiger Bestandteil. Auch Menschen mit Hirnverletzung wollen ihre Sinnlichkeit ausleben. Welche Rolle spielt dieses Thema bei Paaren, die zu Ihnen kommen? Was sind die grössten Schwierigkeiten?

In den «Wohlfühlwochenenden für Paare» bauen wir Phasen und Übungen ein, in denen sich die Paare körperlich, sensitiv und zärtlich begegnen. Es sind Abende, an denen die Paare achtsame Berührungen austauschen. Das ist für viele Paare eine wunderbare Möglichkeit, ihre Wärme und Liebe füreinander neu zu spüren und ihre Zärtlichkeit auf körperlicher Ebene zu geniessen. Für einige Paare öffnet es auch einen Raum, sich wieder zu erinnern an die warme und liebevolle Qualität von Berührungen, die im Alltag oftmals verloren geht.

Ich würde mir wünschen, dass die Paare selbst mehr Bereitschaft und Mut entwickeln, sich offen und ehrlich darüber auszutauschen. Es wäre schön, wenn dieses für eine Partnerschaft sehr bedeutsame Thema auch in den Selbsthilfegruppen offen und mutig thematisiert wird. Da Sinnlichkeit und Sexualität ein menschliches Bedürfnis sind, gleichzeitig für viele Menschen aber auch Verunsicherungen auslösen, würde ich Paaren empfehlen, professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie sich selbst als Paar damit überfordert fühlen.

Hirnverletzungen können den Betroffenen stark verändern, manchmal ist die Person eine ganz andere Person nach einer Hirnverletzung. Ist es verwerflich, wenn der Partner diese «neue» Person nicht lieben kann und sie verlässt?

Auch das ist ein riesengrosses Tabuthema, das viele betroffene Paare beschäftigt. Grundsätzlich würde ich sagen, dass es da nicht um Verwerflichkeit geht. Aber die Frage taucht natürlich auf, weil es eine kulturell-gesellschaftliche Erwartung an «gute» Ehefrauen und Ehemänner gibt. Und die besagt, dass man füreinander da ist, in guten wie in schlechten Zeiten, bis das der Tod uns scheidet. Das erzeugt eine Moralvorstellung, in der es sich schon verwerflich anfühlen kann, überhaupt über die Möglichkeit von Trennung nachzudenken.

Der Gedanke an Trennung kommt erst dann, wenn ein Mensch das Gefühl hat, keine andere Möglichkeit mehr zu haben, wenn Trennung wie der letzte Ausweg erscheint. Das bedeutet eine grosse Notsituation, die sich sehr ausweglos und schmerzhaft anfühlt. Ich würde mir wünschen, dass es Möglichkeiten und Räume gibt, in denen Ehe- und Beziehungspartner eingeladen sind, in möglichst angstfreier Atmosphäre über Trennungsphantasien zu sprechen. Wenn es die Möglichkeit für ehrlichen, herzvollen Austausch gäbe, dann wären Paare vielleicht in der Lage, ungeahnte und überraschende Beziehungsmodelle zu entwickeln, die sich an der Paarrealität und den Bedürfnissen der Partner orientieren können.

Auch hier kann eine gute therapeutische Begleitung des Paares oder eines Partners sehr hilfreich und klärend wirken. Und ja, es braucht Mut und Entschlossenheit, gemeinsame neue Wege zu finden, die den betroffenen Menschen und dessen individuellen Bedürfnissen und Visionen gerecht werden. Das kann dann auch schon mal dazu führen gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen nicht zum Massstab aller zu machen. .

Was sind die Hauptthemen von Paaren, die in Ihren Kurs kommen?

In der Regel haben sich die Qualität der Beziehung und die Rollen von Mann und Frau tiefgreifend geändert. Aus einer Partnerschaft und Liebesbeziehung, die bisher auf Augenhöhe gelebt wurde, wird plötzlich etwas anderes – eine neue Beziehung, welche die bisherigen Rollen total verändern kann (je nach Schwere der Hirnverletzung). Das zeigt sich sowohl in vielen Bereichen des täglichen Zusammenlebens als auch auf der Ebene von Kommunikation und gemeinsamer Lebensplanung.

Der «gesunde» Partner kommt von einem Tag auf den anderen in eine neue Rolle. Von der Liebespartnerin zur Helferin und Pflegerin, vom Liebespartner zu einem Menschen, der auf Hilfe für viele Bereiche des Alltags angewiesen ist. Da die Selbstständigkeit einer betroffenen Person sehr stark eingeschränkt sein kann, findet auch das Beziehungsleben von Mann und Frau nicht mehr auf Augenhöhe statt. Zwischen dem Wunsch nach Unterstützung und Fürsorge für den erkrankten Partner und dem Bedürfnis, ein erfülltes eigenes Leben zu leben, ist für die Angehörigen sehr schwierig.

Sofort melden sich Schuldgefühle, wenn der Angehörige plötzlich anfängt, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und sich die Freiheit für ein erfülltes Leben erlaubt. Die gesellschaftlichen Erwartungen und Normen sind so stark in vielen Menschen verankert, dass Angehörige die Erfüllung eigener Wünsche und Bedürfnisse als herzlosen Egoismus betrachten. Dabei ist es meiner Meinung nach so wichtig, dass die Angehörigen, so gut es geht, auch für sich sorgen. Tun sie es nicht, werden sie irgendwann überfordert, gestresst und ausgepowert sein, was weder ihnen selbst noch den erkrankten Betroffen dienen wird.

Die meisten Menschen wünschen sich eine erfüllende Partnerschaft in ihrem Leben. Menschen mit einer Hirnverletzung sind da keine Ausnahme. Ist es für Menschen mit Hirnverletzung schwieriger, einen Partner zu finden?

Die Suche nach einem neuen Lebenspartner ist selbst auch für «gesunde» Menschen eine spannende und herausfordernde Angelegenheit, die viel Selbstbewusstsein und oft auch eine Portion Mut braucht. Für einen Menschen, der eine Hirnverletzung erlitten hat, bedeutet die Partnersuche wahrscheinlich eine noch viel grössere Herausforderung.

Er muss sich mit Menschen ohne Behinderungen vergleichen, und das vor dem Hintergrund der eigenen Krankheitsgeschichte. Zudem orientiert sich unsere Kultur sehr deutlich an gesunden, gutaussehenden, sportlichen und erfolgreichen Menschen. Da ist es für alle anderen Männer und Frauen, die nicht diesem Bild entsprechen, grundsätzlich schwierig, sich als attraktiven Beziehungspartner zu fühlen.

Interview: Carole Bolliger

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