Es sollte für ihn im Oktober 2019 ein Meditations-Seminar voller Ruhe werden. Doch von einem Moment auf den anderen wurde sein Leben umgekrempelt: Matthias M. bricht am frühen Morgen in seinem Hotelzimmer auf dem Weg zur Toilette zusammen. Er kann sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen und somit auch nicht um Hilfe rufen. Erst nach Stunden wird er in seinem Hotelzimmer gefunden, ohnmächtig am Boden liegend.
Mit dem Helikopter geht’s ins Spital, wo die Diagnose Hirninfarkt gestellt wird. «Die Schwellung in seinem Hirn war so gross, dass die Ärzte den Schädel öffnen und ein Stück der Schädeldecke herausschneiden mussten», erzählt Angela G., seine Lebenspartnerin. Man habe nicht gewusst, ob er überleben würde. Noch heute fallen ihr diese Worte schwer. Als Folge des Hirnschlags ist Matthias M. halbseitig gelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen. Er erleidet eine umfassende Sprachstörung (Aphasie) und kann sich in den ersten Monaten nur mit einigen wenigen Worten verständigen. Heute kann er dank intensiver logopädischer Therapie wieder sprechen. Noch immer ist Kommunikation aber nur eingeschränkt und mit viel Anstrengung möglich.
Nach ein paar Monaten, als es ihm etwas besser geht, wird der herausgenommene Teil der Schädeldecke wieder eingesetzt. Es folgt eine Reha mit täglicher Ergo- und Physiotherapie sowie Logopädie und Neuropsychologie. Rund acht Monate ist Matthias M. stationär und wird zuletzt im «Übungswohnen» auf seine Rückkehr nach Hause vorbereitet.
Kaum aus der Reha, kommen die nächsten Herausforderungen
Bevor Matthias M. nach Hause gehen darf, werden er und seine Partnerin durch die Sozialarbeiterin auf FRAGILE Suisse aufmerksam gemacht. «Es war der goldrichtige Zeitpunkt», erzählt Angela G. heute, «denn in dem Moment, in dem man aus der Reha kommt, kommt man so richtig auf die Welt.» Man freue sich so lange auf diesen Moment und wenn er dann da sei, kämen gleich die nächsten Herausforderungen: wie stelle ich einen IV-Antrag? Wie gestalten wir den neuen Alltag? Wie reagiere ich im medizinischen Notfall? Wo bekomme ich Hilfe? «Ein Dschungel voller Fragen und Ängste.»
Matthias M. und Angela G. wird die Lotsin Yvonne Keller von FRAGILE Suisse zur Seite gestellt. «Sie hat mir alles genau erklärt, war auch bei verschiedenen Abklärungen und Gesprächen mit der IV und anderen Institutionen dabei», erzählt Angela G. In der Lotsin findet sie eine Ansprechperson und Anlaufstation, die proaktiv mitdenkt und unterstützt. «Sie hat mir auf der praktischen Ebene geholfen, mich aber auch emotional gestärkt, in dem sie bekräftigt hat, dass es eine unglaublich schwere Situation ist. Ich habe mich verstanden gefühlt.» Auch Matthias M. ergeht es so: «Nicht richtig sprechen zu können, ist nur ein Aspekt meiner Hirnverletzung. Es gibt wenig Menschen, die verstehen, was ich erlebe und wie es mir geht. Deswegen ist es so gut, dass Yvonne Keller mich versteht.»
Aus dem Leben gerissen
Der heute 57-Jährige hat sich grösstenteils mit seinem Schicksal abgefunden. Dass er nicht mehr als Primarlehrer und Schulleiter arbeiten kann, was er über 30 Jahre lang mit Leib und Seele getan hat, tut ihm weh. Doch ein Wiedereinstieg ist aufgrund seiner Einschränkungen nicht mehr möglich. Auch Tennis spielen oder Fahrrad fahren kann er nicht mehr. Und manchmal fühlt er sich einsam. «Er war ein überaus sozialer und kommunikativer Mensch mit einem grossen Freundes- und Bekanntenkreis, gesellschaftlich und politisch interessiert. Dann wurde er aus dem Leben gerissen», erzählt seine Partnerin. Auch seine drei Kinder, die damals im Teenageralter waren, hätten einen Verlust erlitten. «Er wurde aus seiner väterlichen Rolle gezerrt, die unbeschwerte Zeit mit dem Vater war für die Kinder auf einmal vorbei.» Heute geht Matthias M. oft spazieren, nach über einem Jahr im Rollstuhl kann er wieder gehen und sich gut alleine orientieren. Wenige Sachen kann er selber einkaufen. Kochen und Haushaltsarbeit sind unmöglich geworden.
Das Zurechtfinden in einem komplett neuen Leben sei eine Erfahrung der Überforderung. «Es gibt so viele Bereiche, mit denen man sich auseinandersetzen muss: Medizinisch, sozialversicherungstechnisch, psychisch und emotional. Man ist wie in einem grossen Ozean und versucht, sich über Wasser zu halten. Unsere Lotsin hat uns durch diesen Ozean voller Ängste und Ungewissheit be- und geleitet. Dafür sind wir so dankbar», schliesst Angela G. das Gespräch und ihr Partner stimmt ihr kopfnickend zu.