Diego Collaud hat keine Erinnerungen an seinen Quad-Unfall auf Zypern und die acht Monate, die er nach seiner Rückführung durch die Rega in die Schweiz im Koma lag. Der 24-Jährige verbrachte zweieinhalb Jahre in medizinischen Einrichtungen, von denen einige nicht auf seine Situation zugeschnitten waren. Die Ärzte gingen davon aus, dass sich sein Zustand nie mehr verbessern würde. Damit wollten sich seine Eltern Damien und Carole M. ebenso wie seine Schwester Malvina aber nicht abfinden. «Nur ein Neurologe, Professor Jean-Marie Annoni, hat uns Mut gemacht und uns die Kraft gegeben, an eine Besserung zu glauben. Er ist heute der Pate unseres Vereins, weil er eine so wichtige Stütze auf unserem Weg war», sagt Carole M. Diegos Familie organisierte sich, um ihn täglich zu besuchen. Und dann kam der Tag, an dem Malvina in heller Aufregung ihre Mutter anrief: Ihr Bruder hatte ihr eben den Stinkefinger gezeigt. «Das war Diegos Art, uns zu zeigen, dass er noch da ist. Denn er und seine Schwester hatten sich vor dem Unfall ständig gegenseitig den Finger gezeigt», so Carole. Auch vorher schon habe Diego seinen Angehörigen manchmal die Hand gedrückt, aber die Ärzte und Ärztinnen hätten immer gesagt, dass es sich dabei um Wachreflexe und Zuckungen handle, er aber nicht wach sei. Doch jetzt war sich Malvina sicher: «Mama, wir wissen beide, dass das definitiv kein Reflex war.»
Ende 2017, mehr als zwei Jahre nach seinem Unfall, beschloss Diegos Familie, ihn nach Hause zu holen, und richtete ein Zimmer mit angrenzendem Badezimmer für ihn ein. «Wir machten uns damit auf einen zweiten, sehr langen Weg», gesteht Carole M. Das Erste, was Diego nach seiner Ankunft sagte, war: «Hier fühle ich mich wohl.» Seine Mutter erinnert sich: «Sobald er wieder zu Hause war, verbesserte sich sein Zustand enorm. Seine Fortschritte waren unglaublich. Die Kraft des Gehirns lässt sich nicht erklären.»
Ein neuer Alltag
Vor seinem Unfall hatte Diego M. seine Ausbildung als Landwirt absolviert und war einige Monate auf einem landwirtschaftlichen Betrieb in Kanada tätig. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz arbeitete er in einer Zulieferfirma der Uhrenindustrie. «Das ist ein sehr technisches Metier, das ihm extrem gefällt. Die ganze Familie ist von Uhren begeistert», erzählt Carole M. Der Unfall stellte aber sein ganzes Leben auf den Kopf und Diego musste wieder lesen und schreiben lernen. «Er ist aber immer noch sehr gut in Mathematik. Vielleicht weil er schon immer alles, was mit Logik zu tun hat, sehr gemocht hat», vermutet Carole M. Sein Verhalten hat sich seit der Hirnverletzung verändert. Seine Mutter findet, er sei «ernster» geworden. Manchmal muss er länger nachdenken, um gewisse alltägliche Handlungen auszuführen. Er ermüdet auch rasch, weshalb er nicht Vollzeit in einem Betrieb arbeiten kann, der nicht auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist. «Es ist wichtig, auf die Folgen seiner Hirnverletzung zu achten und ihm zuzuhören. Für Diego wäre ein Arbeitsplatz in einem herkömmlichen Unternehmen nicht möglich. Man muss vorsichtig sein und die richtige Balance finden, um eine psychische Dekompensation zu vermeiden», so die Mutter.
2020 begann Diego M. in der Stiftung Polyval in Payerne zu arbeiten. Die Arbeit in einer angepassten Einrichtung und mit einem niedrigen Pensum tut ihm sehr gut. «Durch Gespräche mit verschiedenen Personen aus dem medizinischen Bereich kam ich auf die Idee, eine geschützte Werkstätte zu gründen. Dort, wo wir wohnen, gab es keine Einrichtung für Menschen mit erworbenen kognitiven Beeinträchtigungen», erklärt Carole M. und fügt hinzu: «Nach der Entlassung aus der Rehabilitation besteht die Gefahr, dass die erzielten Fortschritte wieder verloren gehen, weil die Betroffenen nicht mehr aktiv sind.»
Eine angepasste Arbeit
Die Association 2015 hat sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit Behinderungen ein angemessenes Arbeitsumfeld in einer kleinen Struktur zu bieten. «Wir geben den Betroffenen die Möglichkeit, ihr Pensum entsprechend ihren Fähigkeiten anzupassen», erklärt Diegos Mutter. In der Werkstätte, die an vier Nachmittagen pro Woche geöffnet ist, arbeiten maximal acht Personen gleichzeitig. Die Anpassung des Arbeitsbereichs hat Priorität: Wer hier arbeitet, kann mehrere Aufgaben ausprobieren, wie etwa Etiketten kleben oder Maschinen zusammenbauen, und dann die Tätigkeit auswählen, die ihm oder ihr am besten gefällt. Diego M. ist für die Werkstätte verantwortlich und verwaltet die Lagerbestände. Er achtet sehr auf die hier arbeitenden Menschen und spricht mit ihnen, wenn er sieht, dass sie Schwierigkeiten haben. «Wir verstehen die Ermüdbarkeit, unter der die Betroffenen leiden. Und wir respektieren ihren Rhythmus, bringen ihnen Wertschätzung entgegen und ermutigen sie», sagt Carole M.
Eine neurologische Verletzung hat erhebliche Folgen für die Betroffenen. Dazu zählen eine Beeinträchtigung der gesprochenen und geschriebenen Sprache, der Gestenproduktion, der Wahrnehmung, des Gedächtnisses sowie der Aufmerksamkeitsfunktionen, aber auch Verhaltensänderungen. Hinzu kommt, dass die Betroffenen sehr rasch ermüden. Carole M. erklärt: «Diese unsichtbare Behinderung hat Einfluss darauf, wie beständig sie arbeiten können. So kann es ihnen schwerfallen, jeden Tag neue Aufgaben zu erledigen. Die Ermüdbarkeit ist ein Hindernis bei der Arbeit.» Viele Arbeitgeber sind sich dieser Problematik nicht bewusst und passen weder die Arbeitsbelastung noch die Arbeitszeit an. Deshalb war es Carole M. wichtig, eine geeignete Einrichtung für Menschen anzubieten, die mit diesen Problemen zu kämpfen haben.
Dank FRAGILE Suisse Hoffnung bewahren
Malvina M. hat sich nach der Hirnverletzung ihres Bruders intensiv informiert. Sie war es denn auch, die ihrer Mutter zum ersten Mal von FRAGILE Suisse erzählte. Die beiden Frauen haben sich mehrmals mit Christine Jayet-Ryser, Psychologin und Sozialberaterin von FRAGILE Suisse, getroffen, was ihnen enorm geholfen hat. «Ich werde nie vergessen, wie sie mir sagte, dass sich ein Schädel-Hirn-Trauma nicht verschlechtert. Diese Aussage hat uns auf Diegos ganzem Weg getragen», sagt Carole M.
«Wir hatten auch Kontakt mit Philippe Vuadens, dem Präsidenten von FRAGILE Wallis, der damals in der Westschweizer Rehabilitationsklinik der Suva arbeitete. Er organisierte ein Treffen zwischen uns und einer anderen Angehörigen, um uns über unsere Erfahrungen auszutauschen», erzählt Carole M. «Bevor ich mit Malvina hingegangen bin, wussten wir gar nicht, worüber wir reden könnten. Aber dann haben wir den ganzen Nachmittag lang diskutiert. Wir hatten einen ähnlichen Weg hinter uns und das hat uns in der Richtung, die wir eingeschlagen haben, enorm bestärkt.»
Menschen mit einer Hirnverletzung sind im Alltag mit vielen Problemen konfrontiert. Im Januar 2022 hat FRAGILE Suisse ein politisches Manifest zu diesem Thema veröffentlicht. Damit das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben für die Betroffenen verwirklicht werden kann, braucht es Veränderungen und Verbesserungen in der Sozialpolitik. Das Manifest stellt fünf Forderungen auf, darunter jene an die Arbeitgeber, Betroffenen geeignete Anstellungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten anzubieten. Diese Arbeitsangebote müssen die individuellen Fähigkeiten und die besonderen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen, z. B. durch Teilzeitarbeit, häufigere Pausen wegen verminderter Konzentrationsfähigkeit oder Homeoffice.
Hier finden Sie unser politisches Manifest: www.fragile.ch/politisches-manifest-von-fragile-suisse
Mehr zur Werkstätte von Carole M.: www.association2015.ch
Text: Megan Baiutti