Trotz eines Hirntumors, einer Operation und mehrerer Bestrahlungen bleibt sie positiv. Mit ihrer eindrücklichen Geschichte möchte Claudia sensibilisieren und das Verständnis für unsichtbare Hirnverletzungen fördern.
Mehrere Jahre spürte sie, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Täglich hatte sie mehrere Ohnmachtsanfälle, bis zu sieben am Tag. Von Halluzinationen begleitet. Claudia sah Comicbilder und roch Nagellack – beides war nicht real. Aber beides waren Vorzeichen, dass sie kurz vor einem Ohnmachtsanfall stand. «Einmal war ich in einem Laden, merkte, dass es gleich losgeht, und konnte der Verkäuferin gerade noch sagen, dass sie nichts zu tun brauche und ich selbst wieder zu mir komme», erzählt sie. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Denn für sie war das eine Zeit lang auch so. Verschiedene Ärzte und Psychiater schoben es auf ihre Psyche, war sie doch ein Jahr zuvor wegen eines Burnouts in psychiatrischer Behandlung. «Aber ich wusste, dass das nicht stimmte.»
Im Februar 2014, auf Drängen ihrer damaligen Ergotherapeutin, suchte sie eine andere Ärztin auf. Diese nahm ihre Beschwerden ernst – «zum ersten Mal glaubte mir jemand» – und schickte sie ins MRT. Das Ergebnis war erschütternd: Ein tennisballgrosser Hirntumor, ein Meningeom, hatte sich in der Region oberhalb ihres Ohres gebildet. «Hätte man ihn früher entdeckt, wäre es nicht so schlimm geworden», sagt sie mit einem Hauch von Bedauern. Claudia durfte nach dem MRT noch nicht mal mehr nach Hause. «Alles ging Schlag auf Schlag», erinnert sie sich. Die Operation war riskant und lebensrettend zugleich. «Die Ärzte informierten mich, dass ich zwei Wochen später möglicherweise nicht mehr hier gewesen wäre.» Peng, ein Schock. Doch für die Verarbeitung blieb keine Zeit, sie musste sofort unters Messer.
Mehrere Bestrahlungen nötig
Die Operation erfolgte durch einen Spezialisten, weil viele Chirurgen sich weigerten, sie durchzuführen. «Das Risiko war sehr hoch, dass ich danach hätte behindert sein können», erzählt die 43-Jährige. Die OP verlief zwar erfolgreich, aber nicht ohne Folgen. Claudia musste vieles neu erlernen: gehen, sehen. «Ich habe sehr stark geschielt und Doppelbilder gesehen, mein Gesicht war entstellt und ich hatte schier unerträgliche Schmerzen.» Weil der Tumor so ungünstig platziert war, konnte er nicht vollständig entfernt werden. Mehrere Bestrahlungen folgten. Es sollte der Anfang einer langen und mühsamen Odyssee sein. Der Tumor kam leider zurück und zwei Jahre später musste sich Claudia einer weiteren mühsamen Bestrahlung unterziehen. «Die hat mich kaputt gemacht, seit dann ist alles viel schlimmer», sagt sie. Sie ist überzeugt, dass dabei etwas schiefgelaufen ist. «Ich hatte so grosse Schmerzen wie noch nie und seit dann habe ich erhebliche Probleme mit meinen Augen.» Wenn sie müde ist, verändert sich ihr Sichtvermögen merklich und ihre linke Gesichtshälfte fühlt sich an wie ein «wassergefüllter Sack». Damit hat sie bis heute täglich zu kämpfen. Weitere Folgeschäden sind ein Schiefhals, starke Verspannungen, zum Teil kaum aushaltbare Kopfschmerzen.
Alle zwei Jahre musste sie wieder zur Bestrahlung – der Tumor wuchs stetig weiter. Jedes Mal war es sehr schmerzhaft und belastend, führte zu Haarausfall, Übelkeit und extremer Müdigkeit. Trotz aller Widrigkeiten bleibt Claudia positiv und optimistisch. «Woher ich die Kraft nehme, weiss ich nicht», sagt sie nachdenklich. «Ich denke, andere haben noch mehr Pech.» Ihre schwierige Kindheit, in der sie oft gemobbt wurde – als «fettes, dickes, hässliches Kind» –, hat sie zu einer starken Frau gemacht, «die sich nichts mehr gefallen lässt.» Auch nicht von einem tennisballgrossen Hirntumor. Kürzlich erhielt Claudia eine weitere erschütternde Diagnose: Blasenkrebs. Doch auch hier sieht sie das «Glück im Unglück». Der Tumor wurde früh entdeckt und ist erst einen Zentimeter gross.
Leben im Hier und Jetzt
Heute strukturiert Claudia ihren Alltag sorgfältig. Sie ist ein Morgenmensch und plant zwei Mal wöchentlich Krafttraining sowie Physiotherapie ein. Um ihre Energie gezielt einzuteilen, versucht sie an zwei Tagen in der Woche nichts zu tun und achtet darauf, sich nicht zu überfordern. «Wenn ich zu viel mache, bekomme ich sofort die Quittung dafür.» Sie hat sehr starke Kopfschmerzen, die Konzentration lässt nach, die Müdigkeit steigt. «Mehr als 15 Minuten am Stück kann ich nichts machen, was Konzentration braucht, wie etwa Basteln oder das Einfädeln von Kettchen. Dann schwillt mein Gesicht an und das Sehen wird schwieriger», erklärt sie. Deshalb sind auch Gehirntrainingsübungen für sie schwierig zu machen.
Die Zukunft bleibt ungewiss: jährliche MRT-Untersuchungen gehören zu ihrem Leben dazu. Eine weitere Operation scheint wahrscheinlich, da weitere Bestrahlungen nicht mehr möglich sind. Doch statt in Angst zu verfallen, hofft Claudia auf Fortschritte in der Forschung: «Ich versuche, mich nicht verrückt zu machen, bevor es so weit ist.» Claudia findet Kraft im Glauben und in der Spiritualität. Ihr Motto «Geht nicht, gibt´s nicht» treibt sie an – auch wenn das bedeutet, ihre Grenzen ständig neu anpassen zu müssen.
Die Aargauerin sieht sich nicht als Opfer ihrer Umstände, vielmehr möchte sie ihre Geschichte nutzen, um andere zu sensibilisieren: «Nicht alles, was man sieht, ist auch so.» Sie möchte Menschen ermutigen, ernsthaft zuzuhören und auf ihre eigenen Körpersignale, auf ihr Bauchgefühl zu achten und zu hören. «Hätte ich auf mein Gefühl gehört, wäre mir vielleicht einiges erspart geblieben», sagt sie nachdenklich. Trotzdem hadert sie nicht mit ihrem Schicksal. Sie versucht, jeden Tag zu nehmen, wie er kommt, aus allem das Beste zu machen und so gut zu leben, wie es die Umstände zulassen.
Viele Folgen einer Hirnverletzung sind schwer zu verstehen und zu erklären. Kaum ein Schicksal gleicht dem anderen – unsere Erfahrungsberichte und Porträts zeigen, wie Betroffene und Angehörige damit umgehen.
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Text: Carole Bolliger, Fotos: Markus Hässig