«Der Unfall hat mein Leben zur Sau gemacht», sagt Daniel Stämpfli. Der heute 59-Jährige erlitt durch einen Autounfall vor 35 Jahren ein schweres Schädel-HirnTrauma. Er selber erinnert sich an gar nichts. Nicht an den Unfall, nicht an die Woche, in der er im Koma lag, nicht an die Wochen und Monate danach. Er war zwar wach, aber funktionierte nicht. «Ich stand total neben mir.» Ein paar einzelne Erinnerungsfetzen tauchen hin und wieder auf.
Nach einem Monat Spitalaufenthalt kam er in die Reha. Sein Bruder besuchte ihn regelmässig, doch auch daran erinnert er sich nicht. Daniel Stämpfli ging es zwar körperlich und gesundheitlich langsam besser, aber psychisch war er in einem tiefen Loch. «Damals wäre ich lieber gegangen, ich habe lange mit meinem Schicksal gehadert, tue es auch heute manchmal noch», gesteht er. Nachdem er aus der Reha entlassen wurde, ging es stetig bergab: «Ich verlor alle meine Freunde, meine damalige Beziehung ging in die Brüche, meine Familie war mit dem Thema überfordert, alles war anders, ich erkannte mich selber nicht wieder, meine sportliche Karriere war zu Ende, ich fühlte mich einfach nur hilflos, nichts mehr wert und dann wurde ich noch obdachlos.» Nebst verschiedenen körperlichen Verletzungen durch den Unfall war er aufgrund der Hirnverletzung dauernd müde, hatte sehr starke und anhaltende Kopfschmerzen, grosse Konzentrationsschwierigkeiten und musste bis zu sieben verschiedene Medikamente einnehmen, damit er überhaupt durch den Tag kam. Da sah der junge Mann keine andere Lösung mehr, er wollte seinem Leben ein Ende setzen. Doch der Suizidversuch misslang, er landete in einer psychiatrischen Klinik. Die Erinnerung an diese Zeit tut ihm heute noch weh. Seine Stimme stockt, als er davon erzählt, Tränen schiessen ihm in die Augen. Trotzdem ist es ihm wichtig, darüber zu sprechen. Denn es gehört zu seiner Geschichte.
Er will aufklären und sensibilisieren
Ein paar Jahre nach dem Unfall und der dunkelsten Zeit in seinem Leben traf Daniel Stämpfli seine Frau, mit der er heute 28 Jahre verheiratet ist. Zusammen haben sie zwei erwachsene Kinder. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ihr ging es damals gesundheitlich nicht gut. «Das war meine neue Lebensaufgabe, mich um sie zu kümmern und zu sorgen», sagt Daniel Stämpfli. Und er ist heute überzeugt, dass genau diese Aufgabe ihn schlussendlich gerettet hat. «Ich wurde wieder gebraucht.»
Vor dem Unfall, der sein ganzes Leben veränderte, war Daniel Stämpfli ein begeisterter und erfolgreicher Läufer. Bahn, Cross und Halbmarathon lief er. Der Laufsport war sein grösstes und wichtigstes Hobby. «Ich wollte nicht Profi werden, aber ich war schon ziemlich gut», sagt er und präsentiert einige seiner Medaillen, die er in seiner Läuferkarriere gewonnen hat. Beruflich war er im Aussendienst für chemische Spezialprodukte tätig, was ihm nach dem Unfall durch eine gute Versicherung finanziell ein gutes Leben ermöglichte. Heute ist Daniel Stämpfli begeisterter Nordic Walker. Laufen kann er nicht mehr seit dem Unfall. Dafür hat er Nordic Walking entdeckt und seine Freude dafür teilt er gerne mit anderen. «Mitte der 90er-Jahre war ich schon mal in der Selbsthilfegruppe Solothurn», erinnert er sich. Vor zwei Jahren wurde er durch eine Bekannte wieder auf FRAGILE Suisse aufmerksam und so hatte er die Idee, Nordic-Walking-Gruppen zu leiten bei FRAGILE Aargau/Solothurn Ost. Dies tut er mit viel Leidenschaft und Engagement. Und er will das Angebot noch ausbauen. Dabei geht es nicht um den Wettkampf, sondern um das Zusammensein und darum, sich gegenseitig zu unterstützen und auszutauschen. «Das gibt mir Bestätigung, dass ich jemand sein darf, dass ich etwas Sinnvolles mache und dass ich lebe», sagt er.
Heute – 35 Jahre nach dem Unfall – möchte Daniel Stämpfli mit seiner Geschichte anderen Betroffenen Mut machen. Wie er selber sagt, hat er erst vor ein paar Jahren «den Kampf zurück in mein Leben» aufgenommen. So heisst denn auch der Vortrag, den er gemacht hat und den er möglichst vielen Betroffenen, aber auch Nicht-Betroffenen präsentieren will. «Ich will meine Erfahrung teilen und vor allem darüber aufklären, was es heisst, eine Hirnverletzung zu haben, mit ihr zu leben.» Er will die Bevölkerung sensibilisieren, aber auch aufzeigen, was man trotz einer Hirnverletzung alles schaffen kann. Seinen Vortrag möchte er möglichst breit streuen: bei FRAGILE Suisse, aber auch in medizinischen Zielgruppen, in Rehakliniken oder bei der SUVA. «Das ist meine neue Lebensaufgabe, das gibt mir Kraft und spornt mich an», sagt er und seine Augen glänzen.