Samuel E. sitzt in seiner Wohnung in Bern. Wenn man ihn ansieht und auch wenn er spricht, ist ihm nichts anzumerken. Doch er ist anders als andere, denn er hat mit unsichtbaren Folgen einer Hirnverletzung zu kämpfen. An der einen Wand sind fast 60 Startnummern von Läufen und Marathons aufgehängt, die er in den letzten Jahren bestritten hat. Ein grosses Foto zeigt ihn beim Zieleinlauf. «Das war mein allererster Marathon», erzählt Samuel E. Der heute 39-Jährige hat eine turbulente und bewegende Geschichte hinter sich.
Alles begann im Februar 1999, als er nach einem Fasnachtsball brutal von einer Gruppe junger Männer zusammengeschlagen wurde. «Was genau passiert ist, weiss ich nicht und sonst auch niemand, es gab keine Zeugen», sagt Samuel E. Man vermutet, dass er von einer Nazi-Gruppe attackiert wurde. «Ich war überhaupt kein Schlägertyp, deshalb kann ich es mir nicht erklären.» Seine Erinnerungen an den ganzen Abend sind weg. Was man anhand seiner Verletzungen vermutet, ist, dass die Gegner ihn nicht nur brutal zusammengeschlagen, sondern ziemlich sicher mit Stahlkappenschuhen mehrfach in den Kopf getreten haben.
Ein paar Tage lag der damals 18-Jährige im Koma. Bis auf den Unterkiefer war am Kopf alles gebrochen. Er hatte ein Schädel-Hirn-Trauma, einen Schädel-Trümmerbruch und auch die Hirnhaut war grösstenteils kaputt. Da sein Kopf so stark geschwollen war, mussten die Ärzte fast eine Woche warten, bis sie die nötigen Operationen durchführen konnten.
Wie durch ein Wunder trug Samuel E. keine Folgeschäden davon. Vorerst. Nach einer Weile, als alles verheilt war, konnte er sogar seine Ausbildung zum Lastwagenchauffeur beenden und auf diesem Beruf arbeiten. «Ich hatte keinen Gedächtnisverlust, konnte sprechen und schreiben, mir ging es sehr gut, ich hatte keinerlei Einschränkungen.»
Bis zu seinem 23. Lebensjahr war alles gut. Er war mittlerweile sogar schon zweifacher Vater geworden, war glücklich und zufrieden mit seiner kleinen Familie und seinem Leben. Vier Jahre nach der brutalen Attacke auf ihn hatte er plötzlich, aus dem Nichts, seinen ersten epileptischen Anfall. Bei dem einen blieb es nicht. Regelmässig hatte er Grand mal-Anfälle. Schnell stellten die Ärzte fest, dass die Epilepsie auf die Hirnverletzung von vor vier Jahren zurückzuführen ist.
Alles lief aus dem Ruder
Der heute 39-Jährige fiel in ein tiefes Loch, als er seinen Beruf als Lastwagenchauffeur wegen der Krankheit nicht mehr ausführen konnte. «Ich hatte eine kleine Familie, für die ich sorgen musste», sagt Samuel E. Alles lief aus dem Ruder, seine Freunde wandten sich von ihm ab, da er sich veränderte. «Ich fand keinen Halt mehr, fühlte mich alleine und unverstanden.» Er war oft gereizt, hatte häufig Streit mit seiner Partnerin, der Mutter seiner beiden Kinder. Die Beziehung zerbrach, was ihm endgültig den Boden unter den Füssen wegriss. «Mein ganzes Bild einer glücklichen Familie, wie ich sie immer haben wollte, zerbrach.»
Das Loch, in das er gefallen war, wurde immer tiefer. Er hatte Suizidgedanken, stand sogar schon auf einem Hausdach. Daraufhin verbrachte er ein paar Wochen in der Psychiatrie. Doch das half ihm nur kurzweilig. Kaum wieder draussen, hatte er keine Unterstützung mehr, fühlte sich einsamer als je zuvor. «Da fing er an, Drogen zu nehmen.» Was seine epileptischen Anfälle nur noch mehr verstärkte. Auf Kokain folgte Heroin. Der junge Mann, der damals noch im zürcherischen Säuliamt lebte, unternahm mehrere Versuche, um von den Drogen wegzukommen. «In Zürich habe ich es nicht geschafft. Ich merkte, dass ich einen Neuanfang an einem neuen Ort brauchte», erzählt er. Schweren Herzens, aber mit dem Wissen, dass nur das ihm noch helfen konnte, zog er nach Bern. Dort lebte er auf einem Bauernhof für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. «Es war hart, meine Kinder zu verlassen, aber dieser Schritt hat mich gerettet», ist er heute überzeugt. Nach und nach ging es ihm besser, die epileptischen Anfälle kamen weniger oft und weniger stark, er hatte eine Aufgabe, Tagesstrukturen und nahm seine Medikamente regelmässig. Fast zwei Jahre lebte und arbeitete Samuel E. dort und er fand seinen Weg zurück ins Leben. Vorübergehend.
Neues Ziel im Sport gefunden
Samuel E. wollte wieder alleine leben, suchte mit einem Kollegen zusammen eine Wohnung, fand einen Job als Zügelhelfer. Auch wollte er nochmals eine Lehre machen. Automatikmonteur in einer Lehrwerkstatt. «Doch die Medikamente machten mich müde, ich brauchte für alles mehr Zeit, war in allem langsamer», erzählt er. Die Ausbildung konnte er deshalb nicht beenden. Ein weiterer Tiefschlag, der ihn wieder total aus der Bahn warf. Wieder stürzte er ab, nahm wieder Drogen. Nach einem Vorfall, während dem er auf Drogen war, wurde er in die Psychiatrie eingeliefert. Neun Monate war er dort, gefolgt von eineinhalb Jahren in einem Betreuten Wohnen. In dieser Zeit fand er zum Glauben und zum Sport. Er fing an zu laufen und mit Velofahren. Regelmässig trainierte er und hörte auf zu rauchen. «Ich wusste, im Berufsleben kann ich wegen meiner Krankheit nichts mehr erreichen, aber im Sport schon.» Er hatte wieder ein Ziel vor Augen: Läufe und Marathons zu bestreiten. Er wollte jeden kleinen und grossen Pass in der Schweiz mit dem Velo überqueren. Fast alle hat er mittlerweile geschafft. Und beinahe 60 Läufe und Marathons hat er absolviert.
Vor ein paar Jahren hörte er von FRAGILE Suisse. Das Kursprogramm, das ihm ein Bekannter gab, machte ihn neugierig und so nahm er an einem Kletterkurs teil. Es folgte der Sonntagsbrunch von FRAGILE Bern. Schnell fand er gute Freunde in diesem Umfeld. «Zum ersten Mal in all den Jahren fühlte ich mich verstanden. Ich habe andere kennen gelernt, die mit den gleichen oder ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Ich war endlich nicht mehr alleine.»
Heute geht es ihm gut. «Dank dem Sport und FRAGILE Suisse», ist er überzeugt. Auch wenn es ihn manchmal immer noch schmerzt, wenn ein Lastwagen an ihm vorbeifährt und er weiss, dass er das nie mehr machen kann. Und auch wenn es wehtut, dass er nicht mehr schwimmen darf. Samuel E. arbeitet heute 50 Prozent in der geschützten Glaswerkstatt GlasArt von Terra Vecchia. Die restliche Zeit widmet er dem Sport und wenn möglich seinen mittlerweile erwachsenen Kindern, mit denen er ein gutes Verhältnis hat. «Es war ein harter Weg, aber ich bin stolz auf mich, wie weit ich es geschafft habe und dass es mir heute gut geht.»
Text: Carole Bolliger
Foto: Ethan Oelman