«Am meisten fehlt mir, dass ich nicht mehr in den Ausgang kann – von Party zu Party tingeln und die Nacht zum Tag machen.» Dazu ist der 29-jährige Marius S. nach einer Hirnblutung vor zwei Jahren noch zu schwach. «Ich konnte mir aber bereits wieder viel von dem zurückerobern, was früher selbstverständlich war», sagt er. Im Jahr 2013 erhielt er Unterstützung einer Mitarbeiterin von FRAGILE Suisse. Sie beriet ihn und auch dank ihrer Hilfe kann er sich heute selbst um seinen Haushalt kümmern und bewohnt alleine einen charmanten Altbau mit Blick über die Bieler Altstadt. Hie und da helfen ihm seine Freunde oder die Mutter. Geplant war das alles jedoch anders: 2010 lernen sich Marius S. und seine Freundin Mirjam* kennen. Beide studieren Landschaftsarchitektur an der Hochschule für Technik Rapperswil, er ist 25, sie 21. Es ist eine schnelle und intensive Liebe: Nach wenigen Monaten ist Mirjam schwanger, Ende 2010 kommt Tochter Melina zur Welt. «Als ich mit meiner Familie vor einem Jahr in diese Wohnung einzog, dachten wir, wir würden für die nächsten zehn Jahre zusammen hier wohnen bleiben», sagt Marius S. Doch kurz danach überrollt das Schicksal das Leben der kleinen Familie.
Heiratsantrag in der Rehaklinik
Schemenhaft erinnert sich Marius S. an den Schicksalstag. Am 3. September 2011 erleidet er eine Hirnblutung. «Ich erwachte am Samstagmorgen mit Kopfschmerzen, die so höllisch waren, dass es kein simpler Kater sein konnte.» Mirjam hört, wie ihm in der Küche das Glas aus der Hand fällt, findet ihn bewusstlos. Vom Spital Biel fliegt ihn die Rega ins Berner Inselspital, wo er umgehend operiert wird. Es folgen fünf weitere Notoperationen: In seinem Gehirn wurden so genannte arteriovenöse Malformationen entdeckt, angeborene Kurzschlüsse zwischen Venen und Arterien. Einer davon hatte zu dem geplatzten Aneurysma geführt. Um zu verhindern, dass sich dies wiederholt, mussten die Ärzte auch die anderen Fehlbildungen entfernen.
Marius S. überlebt, doch er liegt während zweier Monate im Koma. Es folgen mehrere Monate Rehabilitation. Seine Freundin und seine Tochter geben ihm in dieser Zeit viel Kraft: «Für sie habe ich mich am Leben festgeklammert, für sie war es nötig zu kämpfen», sagt Marius S. Melinas ersten Geburtstag feiern sie in der Cafeteria der Rehaklinik – an diesem Tag kann er zum ersten Mal aus dem Rollstuhl aufstehen. Mirjam ist in der ganzen Zeit seine wichtigste Stütze. Sie organisiert jeden Tag einen anderen Besucher für ihn. Und noch am Krankenbett bittet sie ihn, sie zu heiraten. «Die meisten anderen Frauen hätten mich in diesem Zustand vermutlich verlassen», sagt Marius S. «Aber dann hätte ich nicht mehr weiterleben wollen.»
Weiterhin Vater sein können
Doch zuhause überfordert die Situation die junge Frau zusehends. Mehr und mehr wird sie zur Betreuerin ihres Partners. «Sie war dem nicht gewachsen», sagt Marius S. heute. Und: «Ich frage mich, ob sie mich nur heiraten wollte, damit ich am Leben bleibe.» Im Sommer 2013 verlässt sie ihn wegen eines anderen. Der Schmerz sitzt tief, doch Marius erwartet noch viel vom Leben. «Das Leben ist manchmal ein unfaires Spiel», sagt er, «aber game over bin ich nicht.» Vor allem ist da Tochter Melina, der er weiterhin ein Vater sein will. Das war nicht immer einfach: «Als ich im Koma lag, war sie zu klein, um etwas zu verstehen. Sie dachte, ihr Vater wäre weg.» Während der Rehabilitation reagierte sie dann teilweise sogar ablehnend, sah in ihm einen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der Mutter. Heute ist Melina drei Jahre alt und die Einschränkungen ihres Vaters gehören für sie dazu.
Mehr Offenheit
«Es gibt im Leben viele Überraschungen», sagt Marius S. «Manchmal schlechte, aber meistens gute.» Seine Krankheit habe ihn verändert. So musste er etwa die Kunst der Langsamkeit lernen. Er kocht nur noch selten. Aber er sei auch offener geworden, nicht mehr so schüchtern wir vorher. Noch immer hat er viele gute Freunde, unter ihnen seinen Freund Roman, dessen Café littéraire er regelmässig besucht, und bald möchte er eine bestimmte Frau treffen. «Ich habe sie einfach spontan nach einem Rendez-vous gefragt – früher hätte ich mich so etwas nicht getraut.»
*Name geändert
Text: Annette Ryser