«Betroffene sind nicht nur Kostenfaktor, sondern Teil der Gesellschaft»

Gabriela Riemer-Kafka ist Spezialistin für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und seit vier Jahren Vorstandsmitglied von FRAGILE Suisse. Im Interview sagt sie, was Menschen mit Hirnverletzung von der Politik brauchen und weshalb sie sich persönlich dafür einsetzt.

Gabriela Riemer-Kafka ist Spezialistin für Arbeits- und Sozialversicherungsrecht und seit vier Jahren Vorstandsmitglied von FRAGILE Suisse. Im Interview sagt sie, was Menschen mit…

Eine Person im Rollstuhl sitzt an einem Tisch und klappt einen Laptop auf. Daneben steht eine Tasse Kaffee.

Gabriela Riemer-Kafka, wo liegen in Ihren Augen die grössten Hürden für Menschen mit einer Hirnverletzung? Und was kann die Politik unternehmen?

Die grösste Hürde ist das Finden einer behinderungsgerechten Beschäftigung und eines verständnisvollen Arbeitgebers. Das beginnt bei der Bewerbung, auch wenn gesundheitliche Defizite nicht offengelegt werden müssen, und endet bei einer Kündigung. Die Einführung zusätzlicher regulatorischer Einschränkungen zugunsten von Arbeitnehmenden mit Behinderungen, wie z.B. eine Behindertenquote oder ein strengerer Kündigungsschutz, stossen aber schnell auf politischen Widerstand. Die Politik und die Sozialpartner sollten – zur Förderung von Diversität am Arbeitsplatz – aber die Arbeitgebenden ermuntern und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, auch Menschen mit Behinderungen anzustellen.

Mit der Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) will der Bundesrat den Schutz vor Diskriminierung stärken. Doch die Überarbeitung ist lückenhaft. Welche wichtigen Änderungen sind vorgesehen? Und wo sehen Sie Handlungsbedarf? 

Zentral ist der Einbezug des privatrechtlichen Arbeitsrechts ins BehiG. Geboten werden einerseits gerichtlich durchsetzbare Ansprüche, um vom Arbeitgebenden den betrieblichen Verhältnissen angemessene Vorkehren zur Beseitigung von Diskriminierung zu erzwingen. Andererseits werden finanzielle Nachteile bei Diskriminierung bei der Anstellung, am Arbeitsplatz, bei der Entlöhnung oder missbräuchlichen Kündigung angedroht.  Für Menschen mit Behinderungen ist dies im Hinblick auf ihre berufliche Integration zu wenig zielführend. Weiterer Handlungsbedarf besteht nach wie vor hinsichtlich der Zugänglichkeit im öffentlichen Raum und privaten Wohnungsbau, beim Verbandsbeschwerderecht, Mitspracherecht oder mit Bezug auf das Fehlen von Kontrollen und Sanktionen bei zögerlicher Umsetzung der geforderten Massnahmen. 

Inclusion Handicap hat eine Mustervernehmlassungsantwort vorbereitet. Diese haben Sie mit dem Team von FRAGILE Suisse ergänzt und eingereicht. Wo lagen die grössten Herausforderungen und was erhoffen Sie sich davon?

Die Ergänzungen unsererseits liegen hauptsächlich bei der Feststellung, dass die Vorschläge des Entwurfs die bereits bestehende Rechtslage, nämlich Diskriminierungsverbot, Recht auf angemessene Vorkehren am Arbeitsplatz sowie Entschädigungsansprüche, inhaltlich nicht grundsätzlich verbessern. Bessere berufliche Integration gelingt nur mit einer gesetzlichen Verankerung spezifischer Massnahmen, Anreizen für Arbeitgebende in Form von finanziellen Erleichterungen und über die institutionellen Beiträge hinausgehenden finanziellen Mittel, wie sie in anderen Bereichen wie Sport, Kultur usw. auch anzutreffen sind. Ich erhoffe mir, dass unsere Vorschläge in die politische Diskussion und vielleicht sogar ins Gesetz einfliessen. 

Was wünschen Sie sich persönlich für Menschen mit Hirnverletzung von der Politik? 

Mein Wunsch an die Politik ist die Erkenntnis, dass Menschen mit Hirnverletzung, aber auch solche mit einer anderen Behinderung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen wertvollen Beitrag an unsere Gesellschaft leisten können und wollen, dass sie nicht nur als Kostenfaktor sondern als Teil unserer Gesellschaft betrachtet werden und, dass die Worte der Präambel unserer Bundesverfassung in die Tat umgesetzt werden, insbesondere dass sich die Stärke des Volkes misst am Wohl der Schwachen – und dazu gehört auch, sich integriert zu fühlen.

Es gibt diverse gesetzliche Grundlagen. Welche Massnahmen helfen, die beruflichen Möglichkeiten für Menschen mit Hirnverletzung zu verbessern? Greifen die bestehenden Massnahmen genügend? Wo gibt es allfällige Lücken?

Bei körperlichen oder psychischen Einschränkungen sind es Arbeitsplatzanpassungen jeglicher Art. Für kognitive und psychische Probleme eignen sich eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und des Arbeitsrhythmus, ein Jobcoaching, Heimarbeit oder Home-Office. Arbeitsplatzanpassungen, Beratung, Jobcoaching, Arbeitsversuche oder Einarbeitungszuschüsse werden von der Invalidenversicherung angeboten, Einarbeitungszuschüsse auch von der Arbeitslosenversicherung. Unabhängig von Versicherungsleistungen, kann sich jede angestellte Person auf den im Arbeitsvertragsrecht und Arbeitsgesetz verankerten Persönlichkeits- und Gesundheitsschutz berufen, riskiert jedoch damit eine Kündigung. Ergänzend zum bestehenden Angebot sollten aber für Arbeitgebende Anreize geschaffen werden, wie steuerliche oder andere Erleichterungen bei Anstellung bzw. Weiterbeschäftigung von Mitarbeitern mit Behinderungen, Beratung, Jobcoaching oder Awards für soziales Engagement etc.

Die Teilrevision des BehiG weckt Hoffnung und Erwartungen bei Menschen mit Hirnverletzung und anderen Behinderungen. Weshalb raten Sie hier zu Vorsicht? Und wie können Enttäuschungen umgangen werden? 

Die in der Teilrevision vorgesehenen Massnahmen verbessern die Situation von Menschen mit Hirnverletzung nicht wesentlich. Zum einen sind die Fördermassnahmen und -programme zur besseren Integration als sogenannte „Kann“ Vorschriften ausgestaltet und zum anderen steht die Unterstützung von Sprach-, Seh- oder Hörbehinderungen sowie deren Organisationen im Vordergrund. Zudem müssten Diskriminierungen im Arbeitsbereich von den Betroffenen erstritten werden, wozu in aller Regel die Kraft fehlt, das Verbandsbeschwerderecht aber auf Persönlichkeitsverletzungen beschränkt wird. Auch werden dem Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen mit der Teilrevision keine Kompetenz und kein Instrument zur Kontrolle der Umsetzung des Gesetzes in die Hand gegeben.

Konkret sieht das Behindertengesetz (BehiG) vor, dass Personen mit Behinderung nicht aufgrund ihrer Behinderung von einem Arbeitgeber «abgelehnt» werden dürfen. Dieses Gesetz kann jedoch viel zu leicht umgangen werden. Weshalb?

Ein Aspekt des hierzulande eher freiheitlich ausgestalteten Arbeitsvertragsrechts besteht darin, dass grundsätzlich niemand einen Rechtsanspruch auf Anstellung besitzt. Der Arbeitgebende ist in der Auswahl unter den Bewerbungen völlig frei. Zwar ist – gleich wie im Gleichstellungsgesetz – ein Rechtsanspruch auf Begründung der Ablehnung vorgesehen, doch der Nachweis der ausschliesslich behinderungsbedingten Absage dürfte aus Gründen der Vielfalt von möglichen Ablehnungsgründen schwer zu erbringen sein.

Wo sehen Sie die politischen Aufgaben von FRAGILE Suisse und anderen Behindertenorganisationen? 

Die politische Aufgabe von Fragile Suisse besteht zum einen in der Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Politik für die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Hirnverletzung. Darüber hinaus gehört es zu unserer Aufgabe, die Allgemeinheit über die vielfältigen und oftmals nicht nach aussen in Erscheinung tretenden Einschränkungen durch Kurse oder Kampagnen zu informieren, dies auch mit Bezug auf eine allfällig nötige medizinische Begutachtung. Zum anderen steht Fragile Suisse in der Pflicht, effektive Massnahmen zur besseren Integration von Menschen mit Hirnverletzung in die Gesellschaft und ins Berufsleben vorzuschlagen.

Wie können diese Menschen besser geschützt werden? 

Menschen mit Behinderung, insbesondere auch Menschen mit Hirnverletzung, brauchen letztlich nicht mehr Schutz, sondern bedürfen der vermehrten Unterstützung und Empathie durch uns, durch die Gesellschaft und die Arbeitswelt.

Welchen Beitrag leisten Sie ganz persönlich dazu?

Meinen persönlichen Beitrag leiste ich durch mein jetziges Engagement bei Fragile Suisse, durch wissenschaftliche Publikationen, derzeit durch die Teilnahme an einem wissenschaftlichen Projekt der Stiftung Schweizerische Paraplegiker Forschung zur besseren Integration von Menschen mit Hirnverletzungen ins Berufsleben sowie früher durch die Beschäftigung an meinem ehemaligen Lehrstuhl in Luzern auch von Mitarbeitenden mit einer Hirnverletzung.

Interview: Carole Bolliger 

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