Dr. Christina Ochsner-Grimm, vor kurzem traf ich einen jungen Mann, der vor ein paar Jahren einen Hirnschlag erlitten hatte. Auf den ersten Blick war ihm nichts anzusehen. Erst, als er sprach, merkte ich, dass etwas anders war. Er sagte «manchmal wäre es mir lieber, ich würde im Rollstuhl sitzen». Wie ihm geht es auch vielen anderen Betroffenen, die mit unsichtbaren Folgen einer Hirnverletzung leben müssen. Was ist das Hauptproblem an unsichtbaren Behinderungen?
Solche Fälle sind mir aus der Therapie mit Patienten sehr gut bekannt. Eines der Hauptprobleme bei den «unsichtbaren» Behinderungen ist die Akzeptanz der hirnverletzungsbedingten Schwierigkeiten in der Gesellschaft. Während sich das gesellschaftliche Klima in Bezug auf die sichtbaren Behinderungen in den letzten Jahren hin zu grösserer Akzeptanz und mehr Verständnis gewandelt hat, ist dies bei den weitgehend «unsichtbaren» Einschränkungen längst nicht der Fall. Auch, weil darüber in der Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt ist.
Im Gegenteil werden Betroffene mit nicht offensichtlichen Einschränkungen und Behinderungen oft in die Ecke der Simulanten gedrängt, denen man ihre Beschwerden nicht abnimmt. Ich kenne sogar Fälle, wo selbst eigene Familienmitglieder den Betroffenen ihre Schwierigkeiten nicht glauben. Dabei muss es sich nicht einmal um neuropsychologische Störungen handeln. Auch Schmerzattacken, etwa im Rahmen eines Rheumaschubes, gehören zu diesen „unsichtbaren“ Einschränkungen. Schlimm wird es dann, wenn die Betroffenen selbst von ihren Angehörigen zu hören bekommen, sie sollen sich „nicht so anstellen“, „so schlimm wird das schon nicht sein“, man sei eben „ein fauler Siech“ etc. Denn diese soziale Stigmatisierung geht sehr und im wortwörtlichen Sinne an die Substanz (z.B. kann es bei gravierendem und länger andauerndem Stress zu einer Reduktion von bestimmten stress-sensiblen Hirnarealen kommen, welche z.B. für die Gedächtnisbildung zuständig sind (Hippokampus).
Was sind die häufigsten unsichtbaren Folgen, mit denen Betroffene zu kämpfen haben?
Generell sind alle kognitiven (Informationsverarbeitungs-) Störungen zunächst einmal unsichtbar (z.B. Gedächtnisprobleme), sie werden aber zumeist indirekt im Verhalten manifest (Patient verläuft sich, findet das gesuchte Wort nicht, wiederholt sich ständig u.ä.m.). Hierzu zählen auch Aufmerksamkeitsprobleme oder Schwierigkeiten im Umstellvermögen, die immer wieder zu oft auch schwerwiegenden Fehlern im Alltag, bei der Arbeit oder auch im Strassenverkehr führen können. Sehr häufig leiden Betroffene nach einer Hirnverletzung neben kognitiven Problemen ausserdem noch an einer reduzierten Belastbarkeit mit rascher Ermüd- und Erschöpfbarkeit. Diese sieht man den Betroffenen nicht an. (Testpsychologisch können solche Ermüdungszeichen heutzutage aber objektiviert werden.) Auch Erregungssteuerungsstörungen (mit Hyper- oder Hypo-arousal), Störungen der Impulskontrolle, der Affektregulation, der Stress- und Frustrationstoleranz, eine gesteigerte Ablenkbarkeit usw. können Betroffene bei diversen Tätigkeiten oder im sozialen Kontakt stark behindern. Schlimm wird es v.a. dann, wenn selbst Fachleute diese Probleme nicht erkennen oder falsche Zuschreibungen treffen („Neurose“ „Rentenbegehren“ u.ä.m.).
Werden Betroffene mit unsichtbaren Folgen vom Umfeld häufiger überschätzt, als Menschen mit einer Hirnverletzung, die man ihnen gleich ansieht?
Tatsächlich werden Betroffene mit vorwiegend unsichtbaren Einschränkungen oder Behinderungen häufig überschätzt, v.a. dann wenn es sich um körperlich nicht offensichtlich eingeschränkte, bzw. um „fitte“ oder junge Menschen handelt. Mit zunehmendem Bekanntheitsgrad und gesellschaftlicher Akzeptanz von neuropsychologischen Diagnosen wird sich dies aber ändern. Ich denke hier nicht nur an klassische neuropsychologische Störungsbilder wie Amnesien oder Agnosien, sondern auch an die Diagnosen Legasthenie oder ADHS oder an eine leichte Intelligenzminderung.
Der Ministerpräsident des ostdeutschen Bundeslandes Thüringen Bodo Ramelow berichtete unlängst in einem Interview über seine deutlich ausgeprägte Leserechtschreibeschwäche, die ihm v.a. in der Kindheit ziemlich zusetzte, da er von seinem Vater über Jahre für seine vermeintliche Faulheit bzw. vermeintlich mangelnde Motivation in der Schule immer wieder bestraft und auch geschlagen wurde. Erst die Diagnose des Schulpsychologen (Legasthenie) und der Einsicht, dass es sich nicht um einen mangelnden guten Willen bzw. um Faulheit, sondern um eine gravierende Störung handelt, erleichterte die Situation des Betroffenen in der Folge erheblich. Er wurde trotz dieser kognitiven Schwäche ein erfolgreicher Politiker, oder gerade wegen des Verständnisses für seine Schwierigkeiten?
Was brauchen Betroffene in Ihren Augen verstärkter? Die mit sichtbaren und vor allem die mit unsichtbaren Folgen?
Was die Betroffenen v.a. brauchen ist Verständnis für ihre Schwierigkeiten. Sie brauchen in erster Linie unsere Empathie und nicht (nur) unsere Sympathie. In den letzten Jahren haben sich verschiedene Fachverbände Gedanken gemacht, wie sie die Schwierigkeiten ihrer Betroffenen an die „Normalbevölkerung“ vermitteln könnten. So werden z.B. in Gerontologie-Workshops die Schwierigkeiten beim Essen von betagten Personen damit „simuliert“, dass die Workshop-Teilnehmer sich mit Messer und Gabel Murmeln oder Kugeln zum Mund führen sollen (welche natürlich immer wieder herunterfallen), um zu realisieren, wie erschwert das Essen für Menschen mit Schwierigkeiten z.B. im Bereich der Motorik sein kann. Um Nichtbetroffenen die Probleme eines Legasthenikers zu demonstrieren werden in entsprechenden Sensibilisierungsveranstaltungen Texte in Spiegelschrift zum Lesen dargeboten. Selbst die Automobilindustrie hat die „speziellen Bedürfnisse“ ihrer älteren KundInnen erkannt, und lässt ihre Komfort-Prüfer die Schwierigkeiten ihrer älteren Kunden beim Ein- und Aussteigen aus dem Fahrzeug mit um die Waden und Schenkel geschnallten Gewichten ausprobieren. Ganz zu schweigen von einem Besuch eines Restaurants, in welchem dem Besucher der visuelle Eindruck völlig verwehrt wird und man in völliger Dunkelheit essen muss.
Es ist noch nicht sehr lange her, dass behinderte Kinder vor allem in ländlichen Umgebungen auf dem Heuboden versteckt wurden, weil man sich ihrer schämte. Erst fachkundige Sonderschullehrer führten auch diese Kinder, noch in den 1970er Jahren, endlich der Schulpflicht zu. Zum Glück hat sich vieles seit dieser Zeit geändert zum Wohle der sichtbar Behinderten. Aufgabe und Auftrag für uns heute, allen voran den Psychologen und Neuropsychologen ist es, in Zukunft auch die weniger offensichtlichen Behinderungen bekannt zu machen und für mehr Akzeptanz und Empathie diesbezüglich zu sorgen.
Interview: Carole Bolliger