Gilles ist ein herzlicher Mensch, der gerne diskutiert. In seiner Wohnung, dekoriert mit Zeichnungen seiner Kinder, wirkt der Mann in den Fünfzigern selbstsicher und entspannt. Man kann sich kaum vorstellen, dass er einmal schüchtern war. Dabei war Gilles ein verschlossenes Kind, das Mühe hatte, seinen Platz zu finden. Nach einer Lehre im Detailhandel tat er sich schwer damit, eine passende Stelle zu finden, und die Beziehungen am Arbeitsplatz waren nicht immer einfach. Eine Zeit lang arbeitete er als Lagerist in einem Supermarkt, dann als Auslieferer und schliesslich als Hausmeister. Seine Freizeit verbrachte er vor allem mit Mountainbiken, Skifahren und Laufen. Einmal nahm er am 10-Kilometer-Lauf von Lausanne teil.
Mit 42 Jahren wurde Gilles erstmals Vater. Der kleine Thomas wurde mit einem lebensbedrohlichen Defekt an der Aortenklappe geboren. Thomas erholte sich aber und zwei Jahre später wurde die kleine Émilie geboren. Gilles sagt, er habe seine Kinder in dieser Zeit nur wenig gesehen. Er hatte damals einen 100-Prozent-Job, der ihn stark belastete. Selbst habe er keine Vorzeichen für seinen Schlaganfall bemerkt, aber der Stress habe sicher dazu beigetragen: «Vorher lebte ich mit dem Fuss auf dem Gaspedal, jetzt stehe ich auf der Bremse.»
Schwierige Zeiten
2013, im Alter von 48 Jahren, erlitt Gilles einen plötzlichen Riss der Halsschlagader, der zu einem Blutgerinnsel im Hirn und einem schweren Schlaganfall führte. Gilles bezeichnet seinen Schlaganfall als «schwarzes Loch», weil er sich überhaupt nicht daran erinnern kann. Die Folge war eine Halbseitenlähmung: Er konnte seinen rechten Arm und sein rechtes Bein nicht mehr gebrauchen und war zunächst auf einen Rollstuhl angewiesen. Sein höchstes Ziel war schnell klar: «Der Arm war für mich zweitrangig; ich wollte wieder gehen können!» Und dafür setzte er viel Energie und Zeit ein. Dass er heute wieder aufrecht stehen und gehen kann, zählt zu seinen grössten Erfolgen.
Nach einem Aufenthalt in einer Reha-Klinik kehrte Gilles zu seiner Frau und seinen Kindern zurück. Die Familie wohnte damals in der Waadtländer Landschaft. Die Rückkehr nach Hause war aber nicht einfach: «Man fällt schnell in ein Loch.» Er, der während Monaten von Fachpersonen betreut wurde, war plötzlich ganz alleine: «Meine Frau ging zur Arbeit, meine Kinder zur Schule und ich ging jeweils nach draussen und setzte mich auf ein Mäuerchen in die Sonne. Ich hatte nichts zu tun …» Diese neue Situation war auch für seine Frau schwierig und schliesslich trennte sich das Paar.
Neu gewonnene Stabilität
Heute, acht Jahre nach seinem Schlaganfall, hat Gilles wieder eine gute Balance gefunden. Er lebt seit vier Jahren in einer betreuten Wohnung in Lausanne. Diese Struktur bietet ihm eine gewisse Sicherheit und erlaubt ihm dennoch ein selbständiges Leben. Er macht den Abwasch, erledigt Einkäufe und kann sich mit seinem Stock und den öffentlichen Verkehrsmitteln frei bewegen. Und seine Kinder können in seiner Wohnung ein und aus gehen. Für ihn ist das ein fast normales Leben. Das half ihm, seine Beziehung zu ihnen zu stärken, was ihn sehr glücklich macht: «Sie interessieren sich für mich, fragen nach, was ich den ganzen Tag gemacht habe.»
Auch der Alltag ist gut ausgefüllt: «Seit meinem Schlaganfall hat sich für mich vieles geändert.» Gilles, der als Kind zurückhaltend war, ist selbst offener geworden. Seine Schüchternheit ist verschwunden und er lernt gerne neue Menschen kennen. Er nutzt die Angebote verschiedener Vereinigungen und beteiligt sich an künstlerischen Workshops, Gesprächsgruppen oder auch Ausflügen. Er, der so gerne wieder gehen wollte, ist über eineinhalb Stunden am Tag zu Fuss unterwegs. Mit seinem Stock spaziert er zum Seeufer und geniesst seine Unabhängigkeit. Die Leute drehen sich manchmal nach ihm um, aber jetzt braucht es mehr, um ihn aus dem Lot zu bringen. Gilles geht sogar regelmässig klettern. Als er das erste Mal unter einer Kletterwand stand, dachte er nicht, dass er es schaffen würde. Aber mit einem Arm, einem Bein und eisernem Willen kletterte er acht Meter in die Höhe. «Das ist ein Sieg für mich!» Diese Heldentat hat ihm übrigens einen Preis der Organisation PluSport eingebracht, die sich für den Behindertensport einsetzt.
Gilles ist aktives Mitglied von FRAGILE Waadt und nimmt oft an Aktivitäten teil. Die Gesprächsgruppen begeistern ihn: «Es ist befreiend, mit Menschen zu sprechen, die die gleichen Probleme haben.» Gesellige Anlässe wie etwa Picknicks oder Weihnachtsessen haben es ihm besonders angetan. Und da er schon immer wissbegierig war, belegte er einen Computerkurs, der von FRAGILE Suisse angeboten wurde. Die Atmosphäre sei entspannt gewesen und der Unterricht habe seinen Bedürfnissen entsprochen.
Widerstandsfähigkeit
Wenn er an den Weg denkt, den er zurückgelegt hat, ist Gilles stolz. Seine Mutter und seine Kinder sind es ebenso. Gilles verschweigt nicht, dass die Situation manchmal auch sehr schwer ist: «Aber man muss damit zurechtkommen.» Eine positive Einstellung ist sehr hilfreich. Er ist sich auch bewusst, wie viel Glück er hat, und berichtet stolz, was seine Tochter im Alter von acht Jahren zu ihm gesagt hat: «Papa, du hast Glück im Unglück gehabt. Du kannst sprechen und gehen!» Er musste ganz einfach lernen, langsamer zu werden. Aber er ist wieder aufgestanden und geniesst dieses neue Leben. «Wenn man einmal eine Hirnverletzung gehabt hat, lässt man sich nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit verrückt machen.»
Text: Aurélie Vocanson
Das Video-Interview