Eines Morgens fährt der Zollexperte François C. sehr früh ins Büro. Es geht ihm gut, er lässt einer Fussgängerin den Vortritt, sie lächelt ihn an. Er freut sich darüber, ist guter Laune und denkt, dass der Tag so nur gut beginnen kann. Aber plötzlich kracht‘s. Er ist noch nicht wieder angefahren, als ein anderes Auto auf ihn auffährt. Es war rot. Daran erinnert er sich, weil er seither Angst vor roten Autos hat, vor allem, wenn sie hinter ihm fahren. Noch heute hört er das Geräusch des Aufpralls. Lange Zeit litt er wegen des Unfalls unter einem Tinnitus.
Der Airbag geht nicht auf. Der Aufprall katapultiert François‘ Auto nach vorn in die Fussgängerin, die ebenfalls verletzt wird. «Ich habe mir grosse Sorgen um sie gemacht», erzählt er. Im Moment des Zusammenstosses schreit er «Achtung!“ und klammert sich ans Steuerrad. Danach erinnert er sich an nichts mehr, ein paar Minuten fehlen in seinem Gedächtnis, aber die wichtigsten Ereignisse sind präsent. Er muss von der Feuerwehr aus dem Autowrack befreit werden. Als der Helikopter kommt, ist ihm nicht bewusst, dass er von allen Beteiligten am schwersten verletzt ist. «Ich sah einen Lichtkreis am Ende eines Tunnels.» Er spürt weder seine Beine, noch seinen Nacken oder die Schulter.
Von Spital zu Spital
Er wird mit dem Helikopter nach Basel geflogen, wo er ein paar Tage bleibt. Seine Beine spürt er noch immer nicht, er hat nur unkontrollierbare Spasmen. Da er keine Brüche hat, wird er sehr rasch in ein Regionalspital verlegt. Dort macht er keine Fortschritte, das Gefühl in den Beinen ist zwei Wochen nach dem Unfall noch immer nicht zurück, seine linke Seite ist irgendwie abwesend. Sein Umfeld sagt, er solle sich ein bisschen anstrengen. Nackenschmerzen, starkes Brennen an den Fusssohlen und im Rücken plagen ihn. Einigermassen gut fühlt er sich nur im Rollstuhl, und er meidet sein Bett wie die Pest. Er bekommt zu viele Medikamente, ist nur noch ein Schatten seiner selbst, leidet an einem Schleudertrauma, sein Rückenmark ist gequetscht. Eines Tages gelingt es ihm wie durch ein Wunder, vom Bett aufzustehen und sich in den Rollstuhl zu setzen, und er beschliesst, die Medikamente abzusetzen. Der «Entzug» dauert sieben Tage. «Danach konnte ich zwar noch nicht rund gehen, aber ein paar Übungen machen. Ich bewegte mich wie ein Astronaut.» Da er viel Gewicht verloren hat, beginnt er mit verschiedenen Rehabilitationstherapien, um die Muskeln wieder aufzubauen. Zunächst wird er auf Suva-Kosten in Deutschland behandelt, danach während drei Monaten in Sitten. Die Schmerzen sind unerträglich. Er hat sowohl den Geruchs- als auch den Geschmackssinn verloren und hat kein Gefühl in den Fingern. Zudem fühlt sich sein Kopf an, als sei er nicht mit dem Körper verbunden. François C. fühlt sich wie eine Schallplatte mit Kratzer, er erzählt immer wieder dasselbe und ermüdet damit sein Umfeld. «Um alles zu behalten, notierte ich meine Gedanken und alles Wichtige in Hefte.»
Wieder am Arbeitsplatz
Im November 2011 kann François C. nach Hause, das tut ihm gut. Anfang 2012 beginnt er wieder zu arbeiten. Es ist ein therapeutischer Wiedereinstieg, der sich jedoch als schwierig erweist. Die Fahrt ins Büro und die zwei Stunden Arbeit täglich erschöpfen ihn. Er ist völlig durcheinander, was die Beziehung zu den Arbeitskollegen erschwert. «Ich war da, ohne da zu sein. Ich versteckte meine Schwächen.» Es kommt zu Spannungen mit der Geschäftsleitung. Ein Jahr nach dem therapeutischen Wiedereinstieg mit zuerst einigen Stunden, danach einem Tag pro Woche, muss sich François C. eingestehen, dass er nicht wieder in sein früheres Leben zurückfindet.
Zum Glück kontaktiert er FRAGILE Suisse. «Ich wusste nicht mehr, an wen ich mich wenden sollte. Alle sagten mir, ich solle mich ein wenig anstrengen und sahen nicht, dass ich genau das tat.» Auf dem Weg zur Arbeit muss er jeweils mehrmals anhalten. Seine Konzentration reicht nicht, um die 50-minütige Strecke auf einmal zurückzulegen, er braucht dafür über eineinhalb Stunden. Auch den Zug kann er nicht nehmen, den Lärm darin erträgt er nicht.
Einschränkungen akzeptieren
«Bei FRAGILE Suisse habe ich zuerst mit einer Sozialberaterin gesprochen. Das war für mich ein Schlüsselmoment, ich fühlte mich endlich wieder wie ein Mensch.» François C. erfährt, dass seine Beeinträchtigungen von der Gesellschaft oft nicht anerkannt werden, dass aber viele Hirnverletzte dasselbe erleben. Das beruhigt ihn ein wenig. Ein Jahr später fühlt er sich mit administrativen Angelegenheiten überfordert und ruft die Helpline an. Dort lernt er Nicole Debrot kennen. Sie ist als Sozialberaterin für den Jura, den Berner Jura und Neuenburg zuständig. François C. fühlt sich zerrissen und verloren zwischen seiner Familie, die sein Bestes will und ihn ermutigt, sein früheres Leben wiederaufzunehmen, und dem Wissen, dass er ein echtes Problem hat. «Ich hatte grosse Schwierigkeiten, meinen Zustand zu akzeptieren und mit meiner Behinderung zu leben.»
«Behinderung» ist das Wort, das er fast nicht über die Lippen bringt, auch heute noch nicht. Auf den ersten Blick scheint es, dass François C. auf gutem Weg und stark ist. Er lacht viel, ist witzig und sehr sozial. Wenn er aufsteht, werden seine Probleme beim Gehen jedoch offensichtlich: Er hinkt, verliert oft das Gleichgewicht und braucht Stöcke. Eine Treppe hinunter kommt der ehemalige begeisterte Läufer nur mit Mühe. Noch schwerer wiegen aber die unsichtbaren Behinderungen: die Müdigkeit, die Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten. Er ist schnell überfordert, was er treffend so formuliert: «Es ist, als würde ich immer versuchen, einen fahrenden Zug einzuholen.» Es ist ihm unmöglich, Ziele zu erreichen, auch wenn er jedes Mal sein Bestes gibt.
Kochen, um vorwärts zu kommen
François C. beschäftigt sich gerne mit Kochen. Damit ein Menu gelingt, muss er nach einer genauen Methode vorgehen. «Mein erstes Gericht war ungeniessbar, ich hatte es viermal gesalzen.» Heute bereitet er zuerst alle Zutaten vor und hakt dann auf einer Liste die Eier, das Salz usw. methodisch ab. Nicole Debrot macht ihm Komplimente für seine Kochkünste, besonders für seine Amaretti. Vor dem Unfall konnte François C. drei Dinge auf einmal erledigen, «wie eine Frau», meint er. Auch den Geschmacks- und Geruchssinn nutzte er beim Zoll als Arbeitsinstrumente, um Waren zu überprüfen.
Hilfe von der Helpline-Beraterin
Bei FRAGILE Suisse erfährt François C. viel Verständnis und Respekt. «Nicole Debrot ist wie ein Engel für mich. Sie hilft mir, mit mühsamen administrativen und finanziellen Situationen fertig zu werden.» Das schwierigste für ihn ist, dass er nicht als behinderte Person anerkannt ist. Zudem ist das Gefühl, nicht nützlich zu sein, für den ehemaligen Zollexperten, der sich mit Fleiss und Hartnäckigkeit nach oben gearbeitet hatte, schwer zu ertragen.
Sein Wunsch für die Zukunft lautet: «Ich möchte wieder am Leben teilhaben und mich ohne finanziellen Druck, ohne Anwälte und Spitäler ‚neu erfinden‘.» Im Moment hat er wenig Handlungsspielraum, Bewegungsfreiheit und Freizeitaktivitäten. Als Folge seines Unfalls verbringt er viel Zeit zuhause und sucht die Ruhe. Durch die Hirnverletzung erträgt er keine Menschenmassen und keinen Lärm, er ist schnell erschöpft. Sein Kampf für die Anerkennung seiner Behinderung ist noch nicht zu Ende, er braucht immer noch Hilfe, um würdig leben zu können. Er weiss aber, dass er auf FRAGILE Suisse und auf Nicole Debrot zählen kann, die ihm anders helfen können als seine Familie. «Das ist eine Schulter zum Anlehnen, die mir auch hilft, um mein früheres Leben zu trauern.»
Text: Isabelle Gay-Crosier, Foto: Mercedes Rieder