«Ab heute wohne ich auch hier», steht auf einem Zettel geschrieben, der an der Wohnungstür hängt. Bailey, der Labrador-Retriever, begrüsst einem auch gleich freundlich, sobald die Tür aufgeht. Hinter ihm steht Tobias C. Der junge Mann ist von Kopf bis Fuss in Weiss gekleidet. Genauso wie seine gesamte Wohnungseinrichtung, mit Ausnahme eines schönen, braunen Holztisches. Als ob er meine Gedanken erahnen würde, erklärt er: «Auf Weiss sehe ich die Flecken besser und ich muss die Wäsche nicht nach Farbe trennen.» Weshalb das für ihn wichtig ist, wird auf den ersten Blick nicht klar. Lediglich eine etwas besondere Brille mit gelben Gläsern deutet an, dass der 29-Jährige ein Handicap hat. «Wenn du mir draussen begegnet wärst, dann wäre der Fall klar», sagt er. Und meint damit, dass man sofort sieht, dass er fast blind ist. Denn draussen ist er immer mit seinem Blindenstock unterwegs. Und seit einem Jahr auch mit Bailey. Er ist ein Blindenführhund und treuer Begleiter und Freund für Tobias C. geworden. «Wir sind ein unzertrennliches Team», sagt er und streichelt ihm liebevoll übers schwarze Fell.
Dass der junge Mann heute selbständig leben kann und wieder so glücklich ist – bis dahin war es ein langer und steiniger Weg. Mit 23 Jahren hatte er nach seiner Erstausbildung zum Landwirt seine militärische Karriere als durchdienender Lastwagenfahrer soeben abgeschlossen und arbeitete als Werttransportfahrer bei der Post. Ein Job, den er liebte «und den ich am liebsten mein Leben lang gemacht hätte.» Dann kam der 8. September 2017, der sein Leben komplett veränderte. Der junge Mann erlitt eine Hirnblutung. «Am Morgen erwachte ich und hatte extrem starke Kopfschmerzen, ich dachte, mein Kopf explodiert», erzählt er. Er konnte noch alleine den Notruf wählen, dann brach er im Badezimmer zusammen und blieb bewusstlos liegen. Seither fehlen mehrere Wochen seines Lebens in seiner Erinnerung.
Mut und Kampfwille kehrten zurück
Tobias C. wurde ins Unispital Zürich gebracht, dort am Hirn operiert und lag danach vier Tage im künstlichen Koma und einen Monat auf der Intensivstation. Das alles weiss er nur aus Erzählungen. Die Folgen seiner Hirnverletzung: er konnte nicht mehr laufen, sein Kurzzeitgedächtnis und seine Konzentrationsfähigkeiten sind stark eingeschränkt und seine Sehkraft beträgt nur noch 5%. «Wie durch ein Milchglas», ergänzt er sogleich, als ob er schon wieder meine Gedanken lesen könnte. Eine lange Zeit der Reha folgte. Zuerst in der Reha Rheinfelden, wo er innert drei Wochen 15 Kilo abnahm. Als Folge seiner Hirnverletzung war ihm ständig übel und er musste sich immer wieder übergeben. «Ich war nach drei Wochen so verzweifelt, dass ich versuchte, mir mit den Fingernägeln meine Pulsadern aufzukratzen. So richtig bewusst war es mir aber nicht, was ich da tat», erzählt Tobias C. Er wurde in eine geschlossene Anstalt in Winterthur überwiesen. Dort stellte man allerdings fest, dass das ständige Erbrechen ein medizinisches und kein psychisches Problem war und der damals 23-Jährige wurde nach einem Monat in die Reha Bellikon verlegt. Laufen konnte er immer noch nicht, er sass im Rollstuhl. «Da habe ich zum ersten Mal so richtig realisiert, dass mein Leben nie mehr so sein wird, wie es war.» Ein schwieriger Moment für den jungen Mann, der noch vor ein paar Wochen mitten im Leben stand und viele Pläne hatte. Ein Moment, der ihn so umhaute, dass er sich beim Klinikinternen Psychologen über Sterbehilfe informierte. Wieder kam er in die Psychiatrie. «Eine schlimme Erfahrung», sagt Tobias C. nur knapp. Weiter möchte er über diese Zeit nicht reden.
Irgendwann fand er den Mut und seinen Kampfwillen wieder. Sicherlich auch dank seiner Familie, die ihn während der ganzen Zeit immer bedingungslos unterstützte und dies auch heute noch tut. «Eines Tages sagte ich mir: und jetzt lernst du wieder zu laufen», erzählt er. Gesagt, getan. «Meine ersten kleinen Schritte werde ich nie vergessen», sagt er nachdenklich. Heute läuft er jeden Tag 10 Kilometer. «Einfach, weil ich es wieder kann und so dankbar dafür bin.» Die Reha in Bellikon war nach einigen Monaten abgeschlossen. Tobias C. konnte wieder laufen. Aber die Sehkraft kam nicht mehr zurück. «Die Sehnerven sind kaputt, das wird nicht wieder», erklärt er. Wut oder Trauer darüber ist ihm nicht anzumerken. Er hat sein Schicksal längstens akzeptiert und ist zufrieden mit seinem Leben. «Heute weiss ich das Leben mehr zu schätzen und ich bin dankbar für alles, was ich wieder alleine kann.»
Unterstützung von FRAGILE Suisse
Der 29-Jährige wohnte nach der Reha ein Jahr in einem Heim für begleitetes Wohnen. Seit einigen Jahren aber lebt er alleine. Er managt seinen Alltag selbstständig. Obwohl er durch die Hirnblutung kein Hungergefühl mehr kennt, hat er das Kochen für sich entdeckt. Tobias C.’ Alltag ist ausgefüllt und erfüllt ihn. Nebst seinem täglichen 10-Kilometer-Marsch mit Bailey geht er regelmässig schwimmen, er spielt Klavier, macht Fitness und trifft Freunde. Auch bei FRAGILE Suisse findet er grosse Unterstützung. Anfangs kam wöchentlich eine Wohnbegleiterin vorbei, um ihn vor allem in administrativen Angelegenheiten zu unterstützen. Heute nur noch zwei Mal jährlich oder bei Bedarf. Tobias C. besucht die Selbsthilfegruppe in Aarau und geht alle zwei Wochen mit anderen Betroffenen in den Nordic Walking-Kurs von Daniel S., der ebenfalls betroffen ist. Auch joggt er wöchentlich in Begleitung von Bailey mit anderen Menschen, die ähnliche Schicksalsschläge erlitten haben. «Der Austausch mit anderen Betroffenen tut mir gut. Es gibt so viele verschiedene Geschichten.» Weiter besucht er den Juuz-Kurs von FRAGILE Suisse. «Den liebe ich. Ich singe so gern und es ist toll, dass es keinen Text gibt, denn den könnte ich ja gar nicht sehen», sagt er mit einem selbstironischen Lachen und ergänzt: «Und merken könnte ich ihn mir auch nicht gut, weil mein Kurzzeitgedächtnis betroffen ist.» Um dieses auf Trab zu halten, macht er jeden Tag mindestens 30 Minuten Gehirntraining. Das hilft ihm.
Arbeiten kann der 29-Jährige aufgrund seiner Hirnverletzung und den Folgen daraus nicht mehr. «Mit 25 Jahren wurde ich offiziell pensioniert und bin wahrscheinlich der jüngste Rentner in der Schweiz», erzählt er und zeigt den Brief seiner Pensionskasse. Auch wenn er das Autofahren vermisst, schlimm findet er es nicht. «Würde ich noch arbeiten, hätte ich gar keine Zeit, das alles zu machen, was ich mache», sagt er mit einem Augenzwinkern. Und wie auf Befehl stupst Bailey ihn mit seiner Nase an. Zeit, rauszugehen. Tobias C. zieht seine weisse Jacke und seine weissen Schuhe an, nimmt seinen Langstock in die eine und Bailey an der Leine in die andere Hand und verlässt seine Wohnung.
Carole Bolliger